Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Mauern Einblicke und Zugang. Die massige Sektenvilla überragte die meisten anderen Häuser. Vor dem Eingang zu einer physiotherapeutischen Praxis blieb Jo stehen und tat so, als mustere er das Schild mit den Öffnungszeiten, während er aus den Augenwinkeln das Tor zum Haus Romain Holländers beobachtete. Er hatte gerade beschlossen, das Viertel erneut zu umrunden, als zwei Frauen, die jeweils an jeder Hand ein Kind hielten, heraustraten. Drei weitere, etwas ältere Kinder folgten. Die kleine Prozession machte sich gemeinsam auf den Weg und verschwand hinter der nächsten Straßenbiegung. Fünf Minuten darauf öffnete sich das Haupttor, und der weiße Lieferwagen bog auf die Straße ab. Auch er fuhr in die andere Richtung. Jo gelang es nicht, zu erkennen, wer am Steuer saß oder ob noch weitere Menschen in dem Fahrzeug gewesen waren. Aber darauf kam es auch gar nicht an.
Mit kleinen Schritten lief er in Richtung des Gebäudes. Die Mauer an der Parkstraße war mindestens zwei Meter hoch. Ohne Hilfsmittel schier unüberwindlich. Es würde nicht einfach werden, auf das Grundstück vorzudringen; geschweige denn, in das Haus zu gelangen, wie er es vorab geplant hatte. Aber so einfach gab ein Jo Selbig nicht auf. Er lächelte kurz. Noch am Wochenende hatte er Lara geraten, die Finger von der Sache zu lassen, und ihren Zorn auf sich gezogen, als er Mark deswegen angerufen hatte. Und heute spionierte er selbst in der Gegend herum. Aber die Erkenntnisse des gestrigen Abends hatten seine Meinung geändert. Er bekam diesen Keller mit der verschlossenen Tür einfach nicht aus seinem Kopf. Irgendetwas ging in dieser Villa vor, und er war fest entschlossen, es herauszufinden.
An der Kreuzung blieb er stehen und betrachtete die Nachbarvilla. Hier gab es nur einen schmiedeeisernen Zaun, der zudem mit seinen Verzierungen guten Halt bieten würde. Es war kaum anzunehmen, dass die Gärten im Innenbereich des Viertels durch ebenso hohe Mauern wie nach vorn hin abgesichert waren. Vielleicht konnte er über das Nachbargrundstück hinübergelangen. Das löste auch das Problem der Überwachungskameras im Eingangsbereich der Holländer-Villa.
Jo zögerte kurz und sah sich ein letztes Mal in alle Richtungen um. Dann gab er sich einen Ruck und setzte den rechten Fuß auf einen der Metallschnörkel.
37
»Hör mal, es tut mir leid.« Mark machte eine kurze Pause, und Lara fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. »Ich war zu einer Tagung in London. Deine Nachricht auf der Handy-Mailbox habe ich erst heute früh erhalten.« Es hörte sich schuldbewusst an. Lara klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich im Spiegel. Unter ihren Augen lagen im Dämmerlicht der Tiefgarage dunkle Schatten. Mochte Mark lügen, mochte es stimmen. Es war egal.
»Ich bin auch nicht ganz schlau aus deinen Äußerungen geworden.«
»Jo hat dich doch am Sonnabend schon angerufen und dir alles haarklein berichtet.«
»Bist du deswegen etwa sauer? Er war besorgt wegen der Häufung von Mordfällen in eurer Stadt. Und gleichzeitig hat er sich auch Sorgen um dich gemacht. Du kannst nicht in jedem ungeklärten Mordfall in Leipzig ermitteln.«
»Ich ›ermittele‹ nicht. Die Fälle kommen zu mir, so, als suchten sie mich.«
»Na komm. Ein bisschen ermittelst du schon, oder? Sei ehrlich. Mir brauchst du doch nichts vorzumachen.«
Laras Zorn verrauchte, und sie musste lachen, während sie ausstieg und zum Lift ging. »Hast recht.«
»Gut, und nun erzählst du mir noch einmal ganz in Ruhe, was inzwischen passiert ist.«
Als sie vor dem Redaktionsgebäude ankam, war Lara fertig mit ihrer Zusammenfassung. Sie blieb stehen und sah an der Fassade hoch. Die großen Fenster glänzten im roten Licht der Morgensonne. Marks tiefe Stimme brummte in ihr linkes Ohr. »Du hast mit allem recht. Diese ›Fast-Food-Leiche‹ wurde gestern Morgen gefunden und die Mitarbeiterin des Jugendamtes am vergangenen Freitag. Da liegen lediglich drei Tage dazwischen. Die Abstände zwischen den Taten verkürzen sich. Dafür kann es mehrere Ursachen geben. Zum Beispiel, dass der Täter das Gefühl hat, sich beeilen zu müssen, weil man ihm schon auf der Spur ist. Es kann aber auch sein, dass sein Wahn stärker wird; dass er, um es mal salopp auszudrücken, durchdreht.«
Friedrich Westermann kam um die Ecke geschlurft, warf seinen Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus. Dann begrüßte er Lara mit einer schnellen Handbewegung und verschwand im Eingang. Mark hatte indessen
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