Sündenkreis: Thriller (German Edition)
ging hinüber zu der Anrichte. Der geschnitzte Jesus über der Tür schaute mit strengen Augen auf sie herab.
Die silbernen Rahmen der Fotos spiegelten das gelbe Licht der Stehlampe wider. Stefan Reinmanns Söhne sahen ihm ähnlich. Beide hatten den verständigen Gesichtsausdruck, den man oft bei älteren Menschen sah. Man konnte erkennen, dass sie sich bemüht hatten, den Anweisungen des Fotografen Folge zu leisten. Ein Bild von Reinmanns Frau war nicht dabei. Während Lara sich noch fragte, wie sie wohl aussehen mochte, klappte die Tür auf, und der Sektenbeauftragte eilte mit ausgestreckter Hand herein. Er brachte einen Schwall frischkalter Luft mit.
»Frau Birkenfeld! Ich freue mich!« Kaum dass er ihr die Hand geschüttelt hatte, marschierte er zu seinem Sessel und nahm Platz. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie am Wochenende nicht zurückgerufen habe, aber ich musste ein Seminar vorbereiten. Wo ist denn Ihr Kollege, der Fotograf?« Er goss sich Tee ein und sah dann zu Lara herüber. Seine wasserhellen Augen leuchteten.
»Jo hat Aufträge. Er begleitet mich nur manchmal.«
»Aha. Sie sind bestimmt wegen des dritten Textes gekommen?«
»Auch.« Sollte er erst einmal das abhandeln. Lara war sich noch immer nicht im Klaren, ob sie Stefan Reinmann in ihre gesammelten Erkenntnisse einweihen sollte. Aber schließlich stammten ihre Informationen nicht ausschließlich von der Polizei, sie hatte – gemeinsam mit Jo – alles selbst herausgefunden, bis auf die Texte selbst, natürlich. Eigentlich sprach nichts dagegen, preiszugeben, was sie wusste.
»Dann wollen wir mal schauen.« Eifrig sprang er auf, hastete ins Nebenzimmer und kam mit zwei Blättern wieder. »Das Ganze hat etwas von einem Déjà-vu, finden Sie nicht auch? Sie kommen zu mir, ich übersetze einen lateinischen Text, Sie nehmen die Übersetzung mit. Und das Ganze von vorn.« Mit einem Lächeln setzte er sich wieder. Dieses Mal fragte er nicht, was das alles sollte.
»Also.« Stefan Reinmann pochte mit dem Zeigefinger auf das obere Blatt. »Dieser dritte Text hier stammt tatsächlich, wie ich es am Freitag schon vermutet habe, aus der Bibel, genauer gesagt aus dem Buch der Sprichwörter oder Sprüche Salomos, hebräisch Mischle . Der Abschnitt steht gleich am Anfang und ist die Mahnung der Weisheit zu Gottesfurcht und Besonnenheit. Hier ist die wörtliche Übersetzung.« Er reichte das Blatt über den Tisch, und Lara las.
»Dies sind die Sprüche Salomos, des Königs in Israel, des Sohnes Davids, zu lernen Weisheit und Zucht, Verstand, Klugheit, Gerechtigkeit, Recht und Schlecht; dass die Unverständigen klug und die Jünglinge vernünftig und vorsichtig werden. … Die Ruchlosen verachten Weisheit und Zucht. Mein Kind, gehorche der Zucht deines Vaters und verlass nicht das Gebot deiner Mutter. …«
Ihre Augen blieben an den nächsten Sätzen hängen, und Robert Wessels Leiche in der Bankfiliale tauchte vor ihrem inneren Auge auf, als hätte sie sie selbst gesehen. »… wir wollen großes Gut finden; wir wollen unsre Häuser mit Raub füllen; wage es mit uns! Es soll unser aller ein Beutel sein … Also geht es allen, die nach Gewinn geizen, dass ihr Geiz ihnen das Leben nimmt.«
Lara schaute kurz zu dem Sektenbeauftragten hinüber. Der letzte Absatz schien ihr sinnbildlich für all die Morde zu sein. »Dann werden sie nach mir rufen, aber ich werde nicht antworten; sie werden mich suchen und nicht finden. Darum, dass sie hassten die Lehre und wollten des HERRN Furcht nicht haben, wollten meinen Rat nicht und lästerten alle meine Strafe: So sollen sie essen von den Früchten ihres Wesens und ihres Rats satt werden. Was die Unverständigen gelüstet, tötet sie, und der Ruchlosen Glück bringt sie um. Wer aber mir gehorcht, wird sicher bleiben und genug haben und kein Unglück fürchten.«
»Interessant, nicht wahr?« Stefan Reinmann saß leicht nach vorn gebeugt, die Unterarme auf den Oberschenkeln, und beobachtete sie.
»Das ist es. Besonders der Schluss.«
»Warum finden Sie den Schluss besonders bedeutsam?«
»Nun …« Lara nahm einen Schluck Tee und stellte die Tasse behutsam ab, ehe sie fortfuhr. »Vielleicht ahnen Sie es längst. Diese Texte haben mit den Morden zu tun, die seit drei Wochen Leipzig erschüttern.«
»Ich dachte es mir!« Stefan Reinmann schlug sich mit der Handfläche auf den Oberschenkel. Seine Augen leuchteten jetzt stärker als zuvor. »Wo fanden sich diese Texte?«
»Sie waren auf die Leichen
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