Sündenkreis: Thriller (German Edition)
den Oberkörper über ihn. Das alles lief wie ein überdrehter Film vor ihren Augen ab, während sie versteinert im Eingangsbereich stand und auf das Durcheinander starrte. Das Ganze konnte in Wirklichkeit nur wenige Sekunden gedauert haben, ihr jedoch kam es im Nachhinein wie eine Stunde vor.
Das Mädchen fragte: »Ist er tot?«, und die ältere der beiden Frauen schüttelte den Kopf, während sie mit weit aufgerissenen Augen Zeige- und Mittelfinger an den Hals des Mannes drückte. Erst jetzt kam das Bild zur Ruhe, erstarrte die Szenerie zu einem Standbild, und erst jetzt sah Lara, wer da auf dem Boden lag. Es war Romain Holländer. Sein Gesicht war bleich, die geschlossenen Augenlider schimmerten bläulich. Ärmel und Schultern der weißen Leinenjacke waren rot eingefärbt. Dünne kirschrote Rinnsale bildeten rund um seinen Kopf eine strahlenförmige Korona.
»Was ist denn hier los?« Lara ging vorsichtig näher heran. Niemand antwortete ihr. Der Sektenführer lag mit leicht gespreizten Beinen auf dem Rücken, die Arme neben dem Körper verkrümmt. Von oben waren keine Verletzungen zu sehen. Das Blut musste von seiner Rückseite kommen, vielleicht vom Hinterkopf. »Fühlen Sie einen Puls?« Lara berührte die Schulter der Frau, die neben Romain Holländer kniete, und diese sah hoch und nickte kurz. Sie hockte sich neben die Frau und betrachtete das bleiche Gesicht und die blauen Lippen. Noch atmete Romain Holländer. Das Einzige, an das Lara sich aus ihrem Erste-Hilfe-Lehrgang noch erinnerte, war, dass man einen Bewusstlosen in stabile Seitenlage bringen sollte. Was aber, wenn er Verletzungen am Schädel oder der Wirbelsäule hatte? »Wissen Sie, was passiert ist oder wo er verletzt ist?« Lara sah die Hilflosigkeit im Gesicht der Frau und ahnte, noch bevor der Satz vollständig ausgesprochen war, dass diese auf beide Fragen keine Antwort hatte.
»Also gut. Ich bin kein Fachmann, aber er atmet und sein Herz schlägt. Wir sollten einen Notarzt rufen und zwar schnell. Haben Sie mich verstanden?« Die anderen beiden Frauen waren neben dem bewusstlosen Sektenführer stehen geblieben, die jüngere – fast ein Mädchen noch – kaute an einem Fingernagel, die andere machte ein Schafsgesicht. Für einen Moment war es ganz still in der Eingangshalle, dann zeigte die Älteste auf das Mädchen, befahl »Ruf an!« und richtete sich mit einem Ächzen auf.
»Haben Sie das gehört?« Lara legte den Kopf schief, während das Mädchen davonhastete, wobei sie fast wieder in dem Blut ausgerutscht wäre. Die Frau mit dem Schafsgesicht schüttelte den Kopf.
»Was poltert und klopft denn da?«
»Ich hab nichts gehört.« Die Älteste wandte den Blick nicht von Romain Holländer, als sie hinzusetzte: »Hirngespinste!«
»Aber ich habe … Einen Augenblick Ruhe bitte!« Die beiden Frauen erstarrten. Jetzt hörte Lara es ganz deutlich. Leise zwar, aber es gab keinen Zweifel. Jemand gab Klopfzeichen. Die Geräusche schienen vom Fußboden auszugehen. Ohne sich weiter um die Frauen und den Sektenführer zu kümmern, ging Lara langsam in die Richtung, aus der die Laute kamen. Hinter der geschwungenen Freitreppe in den ersten Stock führte eine kleine Tür in den Keller. Sie stand halb offen. Lara streckte die Hand nach der Klinke aus, um die Tür ganz zu öffnen, wurde jedoch im selben Moment abrupt zurückgerissen, während eine Stimme direkt neben ihrem rechten Ohr keifte: »Sie können da nicht runter!« Die ältere Frau verstärkte den Griff um Laras Oberarm, zog und zerrte mit ihrem ganzen Gewicht.
»Lassen Sie mich! Da unten wird jemand gefangen gehalten, und ich werde jetzt nachsehen, wer das ist!« Lara lehnte sich in die andere Richtung und legte ihren ganzen Zorn in die nächsten Worte. »Wen wollen Sie schützen? Ihr Chef ist bewusstlos, kümmern Sie sich gefälligst um ihn! Das hier wird so oder so ein Nachspiel haben!«
Als gehe ihr erst jetzt auf, dass sie das Geschehen der letzten Stunden nicht würde rückgängig machen können, ließ die Frau Laras Arm los, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und huschte davon.
Auf dem Weg nach unten verstärkten sich die Geräusche. Kurz, kurz, kurz, lang, lang, lang, kurz, kurz, kurz. Jemand klopfte SOS . Von Jos Fotos wusste Lara, dass es im Keller zwei Gänge gab und einer davon zu verborgenen Räumen führte. Das samtige Weich des roten Teppichs schien unter ihren Sohlen zu federn. Im Vorbeilaufen glitt ihr Blick über die schmiedeeisernen Fackelhalter und den Ruß an den
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