Sündenkreis: Thriller (German Edition)
wundgerieben und brannte, aber das konnte sie nicht aufhalten. Dies hier war ihre einzige Chance. Als das Brennen plötzlich aufhörte, war Julia Seemann für einen Moment erleichtert, bis sie die Feuchtigkeit an den Knöcheln spürte. Blut. Sie blutete. Eine Minute des Nachdenkens, dann schob sie die Füße wieder gegeneinander. Die Flüssigkeit erleichterte das Hin- und Hergleiten, und die Hoffnung, die Beine freizubekommen, wuchs.
Leises Poltern ließ sie zusammenfahren. Kam er schon zurück? Sie hörte ihre Stimme in der Finsternis: Nein, nein, jetzt noch nicht und rieb heftiger. Die Fesseln hatten sich gelockert, daran bestand kein Zweifel, aber sie brauchte noch ein paar Minuten. Ihr Gehör schien sich durch die Dunkelheit oder auch aufgrund der drohenden Gefahr auf wundersame Weise geschärft zu haben. Sie hörte Geräusche. Sie bewegte hektisch die Füße gegeneinander. In ihrem Kopf hämmerte eine Stimme: Schneller! Schneller! Plötzlich glitt der rechte Fuß aus der Fessel und ihr entfuhr ein wilder Aufschrei. Mühsam versuchte Julia Seemann, auf die Beine zu kommen. Wenn er hereinkam, musste sie bereits neben der Tür stehen und ihm ihr Knie zwischen die Beine rammen. Sie hatte nur diese eine Chance. Ging er zu Boden, würde sie sich auf ihn werfen oder ihn treten oder ihm mit ihrem Körper die Luft abdrücken. Vielleicht auch alles auf einmal. Tränen tropften auf den Boden, während sie mit gesenktem Kopf, die nutzlosen Arme auf dem Rücken verzurrt, kniete und wartete, dass ihre Beine ihr gehorchten. Die Schritte über ihr waren verstummt. Julia Seemann nahm den Zorn in ihrem Inneren als Waffe und erhob sich. Die Beine zitterten, aber sie stand. Mit vorsichtigen Trippelschritten bewegte sie sich in Richtung der Tür. Als ihre Schulter gegen die Wand stieß, drehte sie den Körper, und schob sich seitwärts, bis sie nicht mehr Mauersteine, sondern Metall spürte. Sie hatte die Tür erreicht. Ein Grinsen verzerrte ihr Gesicht zu einer schmutzigen Halloween-Maske. Jetzt konnte er kommen.
*
Lara rang nach Luft und ging um den Honda herum. Es mochte in Leipzig zahlreiche Autos baugleichen Typs geben, aber nur eines mit dem Aufkleber »Fotograf im Einsatz« hinter der Frontscheibe. Den letzten Zweifel beseitigte eine abgegriffene Ledermappe auf dem Beifahrersitz. Das Auto gehörte Jo. Lara trat dichter heran, betrachtete den Schmutz, der sich auf der Windschutzscheibe abgesetzt hatte und zeichnete mit dem Finger eine Linie hinein. In ihrem Kopf drehte sich ein Windrad. Jo würde wohl kaum seinen Honda so weit weg von zu Hause stehen lassen, wenn er für »ein paar Tage« in einer »sehr brisanten Angelegenheit« unterwegs war.
Ganz langsam schritt Lara zu ihrem Mini zurück. Die Luft um sie herum schien aus Sirup zu sein. Wenn Jo also gar nicht verreist war – wo steckte er dann? Ohne hinzusehen, drückte sie auf die Fernbedienung und stieg, den Blick in die Ferne gerichtet, in ihr Auto. Zuerst einmal musste der Mini von der Straße. Weiter vorn gab es mehrere Parklücken. Lara begann zu rangieren.
Jo hatte sein Auto in einer Seitenstraße abgestellt, nur wenige hundert Meter von der Sektenvilla entfernt; jedoch so, dass man es von dort aus nicht sehen konnte. Er hatte demnach nicht gewollt, dass man ihn entdeckte. Was hatte er vorgehabt? Lara spürte einen Ruck, als ihr Auto an die Stoßstange des hinter ihr stehenden Wagens stieß, verdrehte die Augen und fuhr einen halben Meter vor.
Nachdem er sein Auto in der Seitenstraße geparkt hatte, war Jo zu seinem Vorhaben aufgebrochen. Lara warf sich die Henkel ihrer Tasche über die Schulter und stieg aus. Wie sie ihren Freund kannte, hatten ihm die Geheimnisse der Sektenvilla keine Ruhe gelassen. Er musste versucht haben, sich hineinzuschleichen, um dort herumzuschnüffeln. Und war nicht wieder aufgetaucht. Ein kalter Lufthauch ließ Lara frösteln, und sie wünschte sich – wünschte sich mit aller Macht ihre Gabe herbei. Warum konnte sie jetzt nicht sehen, wo Jo steckte, wie es ihm ging, warum hatte sie seit ihrem letzten Gespräch nichts davon gespürt, dass er in Schwierigkeiten war? Ihr Mund erinnerte sich an seine Lippen, ihre Nase roch den schweren Beerenduft des Rotweins, den sie getrunken hatten, ihre Fingerspitzen fühlten seine Bartstoppeln. Die Erinnerungen waren frisch, aber sie stammten von Montagabend. Das war fast zwei Tage her. Danach hatte es nur noch eine Notiz auf ihrem Küchentisch, SMS und eine Mail gegeben. Von dem Zettel wusste
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