Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Lara einen Blick auf den Fahrer, dann spurtete sie zu ihrem Auto, sprang hinein und fuhr, ohne sich anzuschnallen, los. Weiter vorn beschleunigte der Lieferwagen. Der Motor ihres Mini-Coopers jaulte, als Lara Gas gab. Es schien in Richtung B2 zu gehen. Während sie mit achtzig Stundenkilometern über die Parkstraße raste, dachte Lara darüber nach, wo der Mann hinter dem Steuer hinwollte und warum er es so eilig hatte. Gleichzeitig konstatierte sie, dass ihr Gefühl nicht getrogen hatte. Hier lief etwas aus dem Ruder. Sie musste unbedingt an ihm dranbleiben.
Die Bremslichter des Lieferwagens leuchteten auf, dann bog er nach links ab. Lara bremste erst im letzen Moment, schlingerte um die Kurve und war froh, den weißen Kastenwagen weiter vorn zu sehen. Wenn er auf die B2 fuhr, konnte sie locker an ihm dranbleiben. Ihr kleines Auto hatte immerhin 122 PS. Weiter kam sie nicht.
Was sie aus den Augenwinkeln erblickte, ließ ihr Herz stolpern. Noch ehe es wieder einsetzte – doppelt so schnell wie vorher –, hatte ihr Fuß schon das Bremspedal bis zum Boden durchgetreten. Sie hörte die Reifen protestierend quietschen, während ihr Körper nach vorn geschleudert wurde und die Stirn zehn Zentimeter vor der Windschutzscheibe stoppte. Manchmal war es eben doch besser, sich anzuschnallen. Aber dieser Gedanke kam Lara erst fünf Minuten später. In jenem Augenblick hatte sie nur eins im Sinn: ob das, was sie da am Straßenrand erblickt hatte, eine Halluzination oder echt war.
Lara ließ den Mini einfach mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der zweiten Reihe stehen und stieg mit weichen Knien aus.
*
Salzige Tränen liefen in ihren Rachen. Julia Seemann schluckte und versuchte, sich auf den Bauch zu drehen. Ihr Rücken schmerzte, und sie fror. Das Tätowieren hatte sich ewig hingezogen. Immer wenn sie gedacht hatte, es wäre vorbei, begann das Summen von Neuem, piekten Tausende feine Nadelstiche in ihren Rücken, wischte etwas Weiches über die malträtierte Haut. Ihr Peiniger hatte stumm gearbeitet und es nicht für nötig gehalten, auf ihre Fragen und Vorwürfe zu antworten, es schien ihn nicht zu interessieren, dass sie ihn erkannt hatte, ihr Geschrei und Geheule hatten keine Regung bei ihm ausgelöst. Ruhig und gelassen waren seine Hände über ihren nackten Rücken geglitten, hatte er sich mit der Tätowiermaschine von den Schulterblättern nach unten gearbeitet. Irgendwann war ihr Zeitgefühl verloren gegangen, und sie hatte sich ihrem Schicksal ergeben. Erst jetzt, als ihr Körper sich in das Unvermeidliche gefügt hatte, als der Geist scheinbar aufgegeben hatte, waren ihr die Parallelen aufgefallen: diese anderen Toten, die man in den letzten Wochen rund um Leipzig gefunden hatte, Frauen und Männer. Bei der sogenannten Bankleiche waren Fotos aufgetaucht, woraufhin die Polizei zugegeben hatte, dass auch die anderen Opfer tätowiert worden waren. Bei diesem Gedanken hatte sie einen Aufschrei nicht unterdrücken können, und der Mann über ihr hatte unwirsch »Was ist denn nun schon wieder?« gemurmelt. Neue Tränen waren geflossen, und Julia Seemann hatte ihr eigenes Schniefen überlaut gehört. Sie hasste es, wenn jemand die Nase hochzog, anstatt sich vernünftig auszuschnauben. Es war absurd, in so einer Situation an solche Belanglosigkeiten zu denken, aber sie konnte ihre Gedanken einfach nicht auf eine Sache fokussieren, während das spöttische Summen der Maschine die Nadelstiche in ihrem Rücken begleitete. Erst als der Mann weg gewesen war, hatte sich der Wirrwarr in ihrem Kopf geglättet.
Jetzt lag sie hier im Dunkeln, und in ihrem Kopf tanzten die Schlagzeilen der Boulevardzeitungen. »Brautleiche«, »Kirchenleiche«, »Serienmörder«. Julia Seemann wusste, was sie erwartete. Und die Ahnung, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, wurde von Minute zu Minute stärker. Sie musste etwas unternehmen.
Die Fesseln an den Fußgelenken schienen lockerer zu sein als vorher. Vielleicht hatten sie sich geweitet, vielleicht hatte ihr Peiniger sie nicht richtig festgezogen, als er ohne ein Wort gegangen war. Julia Seemann begann, die Füße gegeneinander zu verschieben, konzentrierte sich ganz auf die Knöchel, blendete den schmerzenden Rücken und die tätowierten Toten aus. Wenn sie die Füße freibekam, konnte sie den Mörder treten, wenn er zurückkam. Sie zog und drückte, rieb und presste und hielt zwischendurch inne, um Luft zu schöpfen, ehe sie weitermachte. Die Haut an den Gelenken war schnell
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