Sündenkreis: Thriller (German Edition)
direkt in die Kamera. Das kleinere Bild neben dem Text war unscharf. Die rotfleckige Gestalt auf der hellen Unterlage hatte die Arme wie eine Gekreuzigte zur Seite gestreckt.
Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Das würde Tom nicht gefallen, ganz und gar nicht. Es kursierten Fotos von der Modenschau im Netz und somit gewiss auch bald in den Zeitungen. Da die Presse nichts Besseres hatte, erfüllten auch Handybilder ihren Zweck. Ihr eigener Artikel für die Tagespresse war zwar ebenfalls mit einem Archivfoto von Carolin Fresnel illustriert, wenn man jedoch bedachte, was sie stattdessen alles hätten abdrucken können, war Toms Ärger verständlich.
»Morgen, meine Lieben!« Gleichzeitig mit der aufschwingenden Tür schmetterte Jo seinen Gruß in den Raum. Seine Augen leuchteten wie der Morgenhimmel, als er mit schnellen Schritten herankam, sich zu Lara herabbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Sie spürte noch die weiche Wärme seiner Lippen, während in ihrem Kopf ein Klicken ertönte.
Eine Hand mit einem weißen Tuch rieb über eine Oberfläche. Eine sanfte Männerstimme murmelte etwas. Das Tuch wurde in eine Dose mit einer hellen Creme getaucht. Dann vollführte die Hand wieder kreisende Bewegungen. Die Oberfläche war gemustert, der Untergrund von einem sehr hellen Beige, die regelmäßig angeordneten Muster dunkel. Das Tuch wurde beiseitegelegt. Ein Zeigefinger legte sich auf die Oberfläche und strich langsam von links nach rechts. Für einen Augenblick schärfte sich das Bild. Das Muster bestand aus Wörtern. … nunc ergo fili audi me et adtende verba oris mei …
Die Hand legte das Tuch beiseite und griff in einen winzigen roten Stoffbeutel. Das Gemurmel wurde lauter. Es klang wie ein Gebet. Die Handfläche öffnete sich. Holzkugeln klickten aneinander.
»Nina. Sie heißt Nina.« Lara hörte, dass sie die letzten Worte laut gesprochen hatte. Alle starrten sie an.
»Wer heißt Nina?« Jo stand neben ihr und schaute verblüfft. Auch Markus Lehmann war noch da. Er tat so, als würde er die Aufschriften der Ordner im Regal neben der Eingangstür lesen. Nur Hubert tippte unverdrossen.
»Das Mädchen. Ich habe etwas gesehen.« Lara schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, dass darin ein wassergefüllter Ballon hin und her schwappte.
»Komm mit nach draußen.« Jo zog sie am Ellenbogen, und Lara folgte ihm zögerlich. »Wir gehen mal kurz an die frische Luft!« Das trompete er so laut heraus, dass alle es hören konnten. Auf der Treppe kam ihnen Ulrike Bannschuh entgegen. Die Kollegin war erst vor wenigen Wochen zur Tagespresse gewechselt. Lara überlegte noch, wie die Zeitung hieß, bei der die Neue vorher gearbeitet hatte, aber außer dass sie aus Göttingen kam, fiel ihr nichts ein.
Die schwere Tür zur Straße schwang auf, und ein eisiger Luftschwall schlug ihnen entgegen.
»So, nun atme mal tief durch. Und dann sagst du mir, was mit dieser Nina ist. War das wieder eins deiner Gesichte?«
»Ich glaube ja.« Lara schilderte kurz, was sie gesehen hatte.
»Holzkugeln, hm.« Aus Jos Mund kamen weiße Wölkchen. »Aber nichts mit Folter oder Verstümmelungen wie die letzten Male?«
»Nein. Nur die Hand mit dem Tuch und dann dieser Satz. Es war lateinisch.« Lara schloss die Augen und versuchte, die Wörter noch einmal zu sehen, aber es gelang ihr nicht. »Irgendetwas mit fili und verba. «
»Wenn es dir wieder einfällt, kannst du es ja aufschreiben. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«
»Lass uns wieder hochgehen.« Lara rieb sich die Arme. Sie wünschte sich, dass Jo recht hatte, aber bis jetzt waren ihre Halluzinationen immer das Abbild schlimmer Geschehnisse gewesen. Ihre Schritte hallten durch das Treppenhaus.
Das Summen und Klappern in den Redaktionsräumen überfiel sie wie ein aufgeregter Hornissenschwarm. Jo zuckte die Schultern und verschwand ohne ein weiteres Wort im Nachbarzimmer. Lara rief das Layoutprogramm auf und dachte dabei an ein Mädchen namens Nina und kleine Holzkugeln.
»Ich wollte dich zum Essen einladen.«
»Wieso das denn?« Lara, die in ihren Artikel vertieft war, sah hoch. Jo stand neben ihrem Stuhl, ein verlegenes Grinsen auf dem Gesicht. In der Tür zur Küche lauerte Markus Lehmann. Seine Ohren schienen weiter abzustehen als sonst.
»Besprechung.« Er zwinkerte ihr zu. »Du weißt schon.«
Jetzt fiel es Lara wieder ein. Die Fotos. »Heute?«
Jo legte den Kopf schief, zog die Augenbrauen hoch. Das sollte wohl »Ja« heißen.
»Von mir aus.
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