Sündenkreis: Thriller (German Edition)
»Lassen wir es fürs Erste bei diesen Fällen. Obwohl ich noch unzählige weitere anführen könnte, sollte das für eine Selbsterkenntnis reichen.«
»Aber das sind doch alles Fälle, die nichts mit meiner Behörde zu tun haben!« Gerda Saibling leckte sich über die trockenen Lippen. Anscheinend war der Mann auf einem Rachefeldzug. Wenn sie nur wüsste, was sie dabei für eine Rolle spielen sollte!
»Du willst nicht verstehen, oder? Du bist auch nicht besser! Was ist mit den Anrufen, die täglich bei dir eingehen? Bist du der Ansicht, du kümmerst dich ausreichend darum?«
»Ich … ich glaube schon.«
»Aha. Uneinsichtig, wie ich es erwartet habe.«
»Natürlich kann es vorkommen, dass man mal etwas übersieht! Aber das können Sie doch nicht mir allein anlasten. Bitte!« Ihre Nase juckte wie wahnsinnig, und Gerda Saibling wünschte sich nichts mehr, als die Hände freizuhaben, wobei sie sich gleichzeitig dessen bewusst war, dass das Kribbeln ihre geringste Sorge war.
»Und was ist mit der kleinen Jasmin, die vor zwei Jahren hier an Unterernährung gestorben ist? War das nicht dein Fall? Du hast die Familie ein einziges Mal besucht und warst dann der Ansicht, dass keine Gefahr für das Wohl des Kindes bestehe.«
Gerda Saibling antwortete nicht. Dieser unsägliche Fall. Die Mutter hatte einen netten Eindruck gemacht, es war sauber in der Wohnung gewesen, das Kind gut gekleidet und anscheinend auch in einem annehmbaren Ernährungszustand. Sie hatte den Fall zu den Akten gelegt.
Der Mann schien keine weiteren Antworten mehr von ihr zu erwarten. Er sortierte ungerührt seine Papiere, bis er gefunden hatte, was er suchte, und begann mit erhobener Stimme zu lesen.
» Vade ad formicam o piger et considera vias eius et disce sapientiam quae cum non habeat ducem nec praeceptorem nec principem parat aestate cibum sibi et congregat in messe quod comedat usquequo piger dormis quando consurges ex somno tuo? «
»War das lateinisch? Ich verstehe kein Latein!«
»Das musst du auch nicht. Es würde nichts ändern, wenn du den Text verstündest.« Gerda Saibling suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, was jetzt geschehen würde, aber er hatte sich indessen zu seiner Tasche hinuntergebeugt und wühlte darin herum. Es machte ihr Angst, dass er so ganz ohne Zorn schien, so gleichgültig, ruhig, bedacht. Und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sein Gesicht zu verbergen. Meinte er, sie so weit einschüchtern zu können, dass sie ihn später nicht verriet, oder bedeutete das, dass es kein »später« geben würde? Gerda Saibling glaubte zu wissen, wer ihr Peiniger war. Es musste ein Vater sein, dem man das Sorgerecht entzogen hatte; jemand, der erzürnt über das Jugendamt war und diesen Zorn nun an ihr ausließ. Womöglich hatte sogar sie selbst seinen Fall bearbeitet. Seinen Namen hatte er ihr nicht gesagt, vielleicht wäre ihr dann die entsprechende Akte wieder eingefallen. Ihre Akten führte sie sehr gründlich. Während sie noch darüber nachdachte, wie der Mann zu besänftigen war, richtete er sich auf. In der Rechten hatte er ein Gerät, das einem kleinen Akkuschrauber ähnelte. Vorn ragte eine spitze Nadel heraus. Er lächelte, und das machte Gerda Saibling mehr Angst als all die Ernsthaftigkeit vorher.
*
»Der Tote hieß Robert Wessel und war ein Immobilienberater. Ich habe mir den Film, in dem sie die Leiche aus der Filiale abtransportieren, wieder und wieder angesehen, aber es ist einfach zu weit weg. Die Pixelzahl reicht nicht aus. Wenn ich das zu stark vergrößere, wird es unscharf.«
»Aber du sagtest doch vorhin am Telefon, auf die Stirn seien zwei Wörter tätowiert gewesen und der Tote habe genau wie die beiden anderen einen lateinischen Text auf dem Rücken gehabt.« Lara sprach leise. Bis auf Christin, die Spätdienst hatte und im Nebenzimmer an ihrem Computer saß, war die Redaktion leer, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, jemand würde sie beobachten.
»Das habe ich gesagt.«
»Woher weißt du das dann?«
»Von einer ›Quelle‹, wie ihr Journalisten es so schön nennt. Frag mich nicht weiter danach. Ich weiß es eben, und es ist eine authentische Information.« Jo drückte ein paar Tastenkombinationen und sah dann zu Lara.
»Was waren denn das für zwei Wörter?«
» Das hat meine Quelle nun wiederum nicht preisgegeben.«
»Mist. Ich glaube nicht, dass man mir Auskunft gibt, wenn ich deswegen bei der Kripo nachfrage.« Lara legte den Kopf in den Nacken. An der Decke war ein
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