Sündenzeit
Es klang wie ein merkwürdiger synkopischer Chor. Zach stand auf und half Maeve, ihre kleine Reisetasche aus dem Gepäckfach über ihrem Sitz zu ziehen. Dann verabschiedete er sich von ihr und kümmerte sich um seinen eigenen Koffer. Beim Aussteigen nahm er sich vor, sofort ins Krankenhaus zu fahren und nach Sean zu sehen, bevor er irgendetwas anderes tat.
Es war schon Jahre her, seit er das letzte Mal in Dublin gewesen war, aber der Flughafen hatte sich nicht verändert. Zach ging zur Zollabfertigung und blickte sich nach Maeve um, die sich in die Abfertigungsschlange für Einheimische einreihte. Er blinzelte, als er einen Schatten neben ihr zu sehen glaubte. Ein Schatten? In diesem hell erleuchteten Flughafensaal?
Jetlag. Das musste der Jetlag sein.
Er wandte sich zur anderen Seite um und blickte dann erneut zu ihr hinüber.
Merkwürdig, er glaubte, aus dem Augenwinkel etwas anderes gesehen zu haben. Es waren Umrisse gewesen, eine Silhouette, nur ein Eindruck. Das Gesicht einer Frau. Sehr schön, mit rabenschwarzem Haar und kobaltblauen Augen. Die Züge erinnerten ihn an Helena von Troja, vollendete Schönheit.
Im Flughafen wimmelt es von Frauen, sagte er sich. Eine Dunkelhaarige eilte an Maeve vorbei, eine junge Blonde, die sich entschuldigte und schnell weiterging, eine Frau in den Vierzigern, die stehen blieb, um mit ihr zu reden.
Auch wenn Zach von hier aus das Gespräch nicht hören konnte, ahnte er, dass die Frau sich bei Maeve erkundigte, ob sie Hilfe benötigte. Er selbst hätte der alten Dame auch geholfen, aber als Tourist musste er zu einer anderen Abfertigungsstelle.
Maeve ließ sich von der Frau unter die Arme greifen, und Zach lächelte. Ab und zu konnte er Situationen beobachten, die seinen Glauben an die Menschheit wiederherstellten. Sein Lächeln erstarb, als er daran dachte, wie selten er so etwas in letzter Zeit erlebt hatte. Was natürlich auch mit seinem Beruf zusammenhing.
In Miami hatte er in der Forensik gearbeitet. Was er dort zu Gesicht bekommen hatte, war alles andere als angenehm gewesen. Aber es war nun mal sein Job gewesen, und den hatte er verdammt gut erledigt. Als seine Brüder allerdings den Vorschlag zur Gründung einer eigenen Agentur gemacht hatten, war er bereit gewesen. Am selben Tag, als dieser kaputte Typ seinen Säugling in die Mikrowelle steckte, damit er aufhörte zu schreien, hatte Zach seinem Bruder Aidan zugesagt, dass er dabei wäre.
Aber es gab auch andere Menschen auf dieser Welt, daran musste er sich ständig erinnern. Wie zum Beispiel diese Frau dort drüben, die Maeve behilflich war. Oder Sean O’Riley, der nach dem Tod ihrer Eltern zur Stelle gewesen war. In der Zeit, als Aidan verzweifelt versucht hatte, sich und Jeremy und Zach als Familie zusammenzuhalten.
Die Frau stand immer noch bei Maeve, als sich Zach auf den Weg zur Gepäckausgabe machte. Sie war diejenige, die aufschrie, als Maeve zu Boden stürzte.
Keine Absperrbänder, verschiedene Zugänge oder Einteilung nach Nationalitäten konnten sie in diesem Moment trennen. Zach rannte zu Maeve hinüber. Sie griff nach seinem Arm, als er sich neben sie kniete und über sie beugte. Für solche Situationen geschult lockerte er sofort ihren Kragen und fühlte ihren Puls.
Sie lächelte ihn an. „Ich bin fast schon zu Hause“, flüsterte sie. „Es ist gut so. Ich höre die Musik, und die Todesfee hat mir ins Ohr geflüstert. Die Zeit ist da. Möge Ihnen das Glück der Iren zuteilwerden, mein lieber guter Junge.“ Sie hob die Hand und strich ihm mit bebenden Fingern über das Gesicht. Dann erschauerte sie am ganzen Körper und schloss die Augen.
„Maeve?“ Er legte vorsichtig ein Ohr auf ihren Oberkörper. Sie atmete nicht. Ein kurzer Druck mit dem Finger gegen ihre Halsschlagader zeigte ihm, dass es keinen Puls gab. Er bat die Frau, die Maeve geholfen hatte, den Notdienst zu rufen. Dann begann er zu zählen, drückte der alten Frau die Nasenlöcher zu und versuchte sie durch den Mund zu beatmen. Die ganze Zeit machte er damit weiter, doch schon bevor der Notdienst eintraf, wusste er, dass sie nicht mehr lebte.
Er stand daneben, beobachtete die Sanitäter bei der Arbeit und wie diese freundliche alte Dame für tot erklärt wurde. Sie hatte nach Hause gewollt, sagte er sich, und dort war sie nun.
Zach hatte das Gefühl, als würde ihn jemand beobachten. Was natürlich ziemlich albern war, denn die Hälfte der Leute in der Flughalle starrte ihn an. Trotzdem drehte er sich um und glaubte, jemanden
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