Sündhafte Küsse (German Edition)
ersten grauen Strähnen zeigte. Er sah für sein Alter noch immer hervorragend aus, was wohl mit ein Grund dafür war, dass Mutter ihn mochte und weshalb sich Aidan einst von ihm hatte verführen lassen. Henry hatte ihn alles über die Liebe gelehrt, als er etwa in Julians Alter gewesen war. Doch seine Zuneigung zu dem attraktiven Angestellten hatte sich in Abscheu verwandelt. Und dieses Gefühl hielt bis heute an, denn Henry spielte ein ganz übles Spiel mit Aidan.
„Aidan!“ Aufgeregt kam seine Schwester die marmornen Stufen heruntergelaufen. Tränen schimmerten in ihren dunkelbraunen Augen. „Aidan, es tut so gut, dich zu sehen!“
„Hallo, Marianne.“ Er drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gut siehst du aus.“
„Aber Mutter und mir ist ganz grauenvoll zumute!“, klagte sie, während Aidan aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Henry ihn anstarrte, während dieser so tat, als staube er einen geflügelten Cupido ab.
Aidan ballte seine Hände zu Fäusten, ohne es zu bemerken. „Wie geht es Mutter? Hat sich ihr Zustand verschlimmert?“
„Der Arzt sagt, ihr gehe es schon wieder besser, aber ich denke, dass sie sich erst wieder ganz erholen kann, wenn Jul wieder da ist.“
„Jul? Wo ist er?“ Aidans Herzschlag, der gerade dabei war, sich nach der Begegnung mit seinem ehemaligen Liebhaber wieder zu beruhigen, beschleunigte sich abermals. Marianne zog ihn die Treppen hinauf in ihr Boudoir und schloss die Tür, worauf Aidan erleichtert ausatmete. Er hatte genau bemerkt, wie Henry ihn angesehen hatte. Aidan konnte den intensiven Blick beinahe immer noch auf sich spüren.
„Julian ist weggelaufen.“
„Weggelaufen?“ Verflixt, Jul, du bist doch kein Kind mehr! , dachte Aidan wütend, aber sofort schnürte sich sein Herz ein. Was ist, wenn ich daran schuld bin?
Marianne zog ein Blatt Papier aus ihrem Rock und wedelte damit vor seiner Nase umher. Sie erinnerte ihn doch sehr an seine Mutter, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen. „Hier, diesen Brief hat er uns geschrieben.“
Aidan nahm ihn ihr aus der Hand, um die krakeligen Zeilen zu überfliegen: „Liebste Mutter, geliebte Schwester, ich werde fortan bei den Zigeunern leben. In ein paar Wochen ziehe ich mit ihnen weiter. Lebt wohl, Euer Julian.“
Aidan las den Brief noch zwei Mal, bevor er sich mit zittrigen Fingern durchs Haar fuhr. Bei den Zigeunern? Verflucht, Jul, was denkst du dir? Mit keinem Wort hatte Julian den Grund für sein Verhalten erwähnt.
„Er hat sich in letzter Zeit äußerst merkwürdig benommen und war so verschlossen. Sag, Aidan, was ist passiert, als er bei dir war? Er schien sehr aufgelöst zu sein.“
„Seit wann ist er weg?“, fragte Aidan, ohne ihr zu antworten. Mittlerweile raste sein Herz. Oh Gott, wenn ihm etwas zugestoßen ist!
„Er ist schon seit einem Monat fort. Es war noch am Tag seiner Ankunft. Wer weiß, ob er überhaupt noch in der Stadt ist. Wir haben außer diesem Brief nichts mehr von ihm gehört. Sag, Aidan, weißt du etwas?“
Aidan schüttelte den Kopf und versuchte, ruhig zu bleiben. Also liegt es an mir ...
„Mutter macht sich solche Sorgen um ihn. Aidan, wenn bekannt wird, dass unser Bruder bei den Zigeunern rumlungert! Welcher Skandal! Wir wären ruiniert!“
Ach, Marianne, wenn du nur wüsstest ...
„Du musst ihn da rausholen und ihm ins Gewissen reden, damit sich Mutter endlich erholen kann. Auf dich hat er schon immer gehört.“
Aidan steckte den Brief in die Innentasche seiner Weste. „Wo finde ich ihn?“
Marianne erklärte ihm den Weg so gut sie konnte, denn natürlich hatte sie Julian nicht besuchen können, nicht alleine, zumindest. Und die Dienerschaft durfte auf keinen Fall erfahren, dass Julian Shevington kein Mitglied der feinen englischen Gesellschaft mehr sein wollte.
Obwohl Aidan gerade erst angekommen war und noch nicht einmal seine Mutter begrüßt hatte, stürmte er zur Tür hinaus und brach mit Mariannes Einspänner auf.
***
„Ich suche meinen Bruder Julian“, sagte Aidan zu einem fremdländischen Jungen, der ihn von oben bis unten begaffte. Ohne ihm eine Antwort zu geben, wandte sich der Knabe von ihm ab. Aidan glaubte schon, der Zigeuner hätte ihn nicht verstanden oder wollte ihn nicht verstehen, bis ihm dieser jedoch bedeutete, ihm zu folgen.
Aidan drückte sich zwischen zwei Karren hindurch, die eng beieinanderstanden, und folgte dem Kind zu einem Planwagen am anderen Ende der „Wagenfestung“. Dabei bemerkte er die
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