Suendiger Hauch
Zimmer trat. Er blieb etwa einen Meter vor ihr stehen. In Kathryns Augen sah er noch größer aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Und er war mager geworden. Vielleicht war das der Grund.
Doch abgesehen davon, war ihr seine gut aussehende Gestalt so vertraut, so schmerzlich lieb, dass sie einen Augenblick dachte, sie würde wieder von ihm träumen. Während sie in diese silbrigschwarzen Augen, auf sein markantes Kinn und die wunderschönen, sinnlichen Lippen starrte, sehnte sie sich mit aller Verzweiflung danach, ihn zu berühren und ihren Kopf an seine Schulter zu legen.
Kathryn wusste, dass sie es nicht konnte.
Lucien starrte auf die Frau, die vor ihm stand, und einen Moment lang versagten seine Beine ihm ihren Dienst. Während der vergangenen Monate hatte er sich schließlich damit abgefunden, dass er sie nie Wiedersehen würde. Und nun war sie hier. Sie stand vor dem großen Kamin, als sei sie nie fort ge-wesen, so schlank und hübsch wie in seiner Erinnerung. Ihr Haar schien dunkler, und ihre Augen waren von tieferem Grün als früher.
Sein Blick glitt von ihrem Gesicht auf das kleine, in eine Decke gehüllte Bündel, das sie auf ihren Armen trug. Ein Kind. Verwirrung, die sich mit einem tiefen Gefühl der Unsicherheit mischte, stieg in ihm auf.
»Es ist schön, dich wiederzusehen, Kathryn ...«
Sie befeuchtete ihre Lippen. Sie war nervös, was unschwer zu erkennen war, und sie zitterte ein wenig. War es ihr Kind oder gehörte es jemand anderem? War das Kind der Grund, weshalb sie ihn verlassen hatte? War es sein Kind - oder das eines anderen Mannes? Allein der Gedanke daran ließ eine Woge der Bitterkeit in ihm aufsteigen. Doch er kämpfte sie nieder.
»Dir muss kalt sein«, sagte er. »Lass mich dir einen Brandy bringen.«
»Nein ... bitte, es geht mir gut.« Kathryn streckte die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn davon abhalten, zur Anrichte zu treten. »Es tut mir Leid, dass ich dir keine Nachricht geschickt habe«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich weiß, du hattest nicht mit mir gerechnet... warum solltest du auch? Ich bin schon ein ganzes Jahr fort. Ich wollte auch auf keinen Fall zurückkommen, doch ...« Ihre Worte verloren sich im Raum. Sie sah auf das Kind hinab, und Luciens Magen zog sich zusammen.
»Ist ... das dein Kind?«, fragte er sanft, während er nach den passenden Worten suchte, voller Angst, das Falsche zu sagen, und voller Angst vor der Antwort.
»Unser Kind«, erwiderte sie mit weicher Stimme, und seine Augen schlossen sich, als er von einer Welle des Schmerzes überflutet wurde. »Luke ist der Grund dafür, dass ich zurückgekommen bin.«
»Luke?«, wiederholte er. Seine Gedanken wirbelten wild umher, und als er den Namen aussprach, klang seine Stimme angespannt.
»Lucien William Montaine. Ich wusste nicht, dass ich schwanger war, als ich ging, doch ich nehme an, es hätte keinen Unterschied gemacht. Nun, wo mein Onkel tot ist...«
Lucien schüttelte den Kopf in dem verzweifelten Bemühen, seine Fassung zu bewahren. »Dunstan ist nicht gestorben. Von Seiten der Behörden hast du nichts zu befürchten. Sie suchen nicht mehr nach dir.« Zumindest nicht im Augenblick, dachte er.
Ihre Schultern entspannten sich vor Erleichterung. Sie sah so blass aus, so schrecklich unglücklich. Es kostete ihn enorme Überwindung, nicht zu ihr zu gehen und sie in seine Arme zu ziehen. Stattdessen zwang er sich, stehen zu bleiben, voller Sorge, sie würde wieder vor ihm fliehen.
»Ich habe ihn nicht vergiftet.«
Er schluckte hart gegen den Kloß in seiner Kehle an. »Ich weiß, dass du das nicht getan hast. Man weiß noch immer nicht genau, wer es getan hat, aber ich glaubte ohnehin nicht, dass du zu einer solchen Tat fähig wärst.«
Sie sah ihn einen Augenblick lang forschend an, unentschlossen, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Dann fiel ihr Blick erneut auf das Kind, das kurz aufgewacht war. Sein Kind, so viel stand fest, mit demselben dunklen Haar und den typischen dunklen Augen der Montaines. Einen Augenblick lang saß der Kloß in seiner Kehle so fest, dass er kaum sprechen konnte.
Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich musste kommen«, sagte sie. »Ich konnte ihn nicht vor dir verbergen. Ich wollte es tun, Gott allein weiß, wie sehr ich es wollte. Doch Luke besitzt die Geburtsrechte eines Adligen, und ich wusste, dass du gut zu ihm sein wirst und dass du ihn ebenso lieben wirst, wie ich es tue.«
Es gab etwas, das jenseits ihrer Worte lag,
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