Suendiger Hauch
Voraussetzung, dass sie die Wahrheit sprach, war er erstaunt darüber, dass sie diese Verzweiflung so perfekt verbergen konnte. »Bitte fahren Sie fort, Miss Gray«
»Die Männer wollten mich verkaufen. Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass sie mich ... mich allein ließen. Offensichtlich gibt es einen Markt für derartige Dinge.«
Sein Mund verzog sich etwas. »Davon habe ich gehört.« Und sie hätte sicherlich einen Spitzenpreis erzielt. Einen Augenblick lang dachte er daran, dass er durchaus nichts dagegen einzuwenden hätte, selbst ein derartiges Etablissement zu besitzen. Er hätte sicherlich Gefallen gefunden an einer Nacht in den Armen der faszinierenden Miss Gray
»Doch glücklicherweise bin ich entkommen«, fuhr sie mit jener kühlen, kontrollierten Stimme fort, die ihn zu der Frage veranlasste, welche Gefühle sich wohl unter ihrer ruhigen Oberfläche verbargen. Aus jeder ihrer Gesten und Bewegungen sprach ihre gute Herkunft, und hätte sie ihm erzählt, dass adliges Blut in ihren Adern floss, hätte er ihr ohne weiteres geglaubt.
»Ich rannte so weit und so schnell ich konnte«, sagte sie gerade. »Und ich habe mich in einem Stall versteckt, als ...« »Wie?«, unterbrach Lucien. »Wie sind Sie entkommen?«
»Wie?« Zum ersten Mal schien sie verärgert.
»Ja. Wie konnten Sie den Männern entkommen, die Sie entführt hatten? Sie sind eine Dame und nicht vom selben Stand. Wie ist Ihnen die Flucht gelungen?«
Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie sie nervös in ihrem Schoß knetete. Sie musste erst tief Luft holen, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Wir waren tagelang unterwegs und haben an den finstersten Orten übernachtet. Am Abend, bevor wir London erreichten, hielten wir an einem Gasthaus. Einer der Männer, ein Fettwanst mit schrecklich übel riechendem Atem, zerrte mich in einen Raum hinter der Küche. Er und sein Freund - ein großer, breitschultriger Kerl mit schmutzigem blonden Haar - hatten wohl beschlossen, dass sie .... dass sie mich ...« Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen in dem Bemühen, ihre Fassung wiederzugewinnen. »Der Dicke hat mich zu seinem Zimmer geschleppt, während der Blonde draußen wartete. Er fluchte, weil er die Knöpfe seiner Hose nicht aufbekam. Das hat ihn für einen Augenblick abgelenkt, also schlug ich ihm mit dem Nachttopf auf den Kopf und floh durch das Fenster.«
Lucien lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Raffiniert.«
Sie nickte. »Ich war verzweifelt, und ich musste einfach fliehen. Ich lief durch die Nacht, und schließlich fand ich einen Stall im hinteren Teil des Gasthofes. Ich war völlig erschöpft, also habe ich mich im Stroh versteckt und bin eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, sah ich Ihre Kutsche. Nun, den Rest der Geschichte kennen Sie ja.«
»Ich denke schon.« Lucien erhob sich aus seinem Stuhl und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Unmittelbar vor ihr blieb er stehen. »Ich gehe davon aus, Miss Gray, dass Sie mir die Wahrheit erzählen. Das haben Sie doch, oder etwa nicht?« Er sah ihr fest in die Augen. In diesem Augenblick hätte er schwören können, dass er ein leichtes Zögern darin sah.
Sie stand ebenfalls auf. »Ich sage Ihnen die Wahrheit, Mylord. Und ich bitte Sie als Gentleman, mir zu helfen.«
Lucien sah sie nachdenklich an. Er hatte in der Sekunde beschlossen, ihr zu helfen, als sie über die Schwelle seines Arbeitszimmers getreten war, vielleicht sogar schon eher. »Nun gut, Miss Gray Morgen früh werde ich veranlassen, dass eine Kutsche Sie nach Hause zu Ihrem Vater bringt. Eine meiner Hausangestellten wird Sie begleiten und -«
Plötzlich spürte er das Gewicht ihrer Hand auf seinem Arm. »Bitte, Mylord. Mein Vater ist nicht zu Hause und ich ... vielleicht könnten Sie ihm eine Nachricht überbringen lassen. In der Zwischenzeit könnte ich hier warten, bis er mich abholt. Ich weiß, ich verlange viel, doch -«
»Gibt es niemanden sonst, zu dem Sie gehen könnten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Mein Vater wird in ein paar Tagen wieder zurück sein. Wenn Sie ihm eine Nachricht schicken, kommt er sicher gerne hierher und holt mich.«
Lucien sah sie scharf an. Er war sich noch immer nicht im Klaren darüber, wie viel er von ihrer Geschichte glauben sollte. Irgendwie schienen die Frau in der Kutsche, die Frau in seinem Arbeitszimmer und die Frau, die sie ihm soeben beschrieben hatte, nicht zueinander zu passen. Er war alles andere als überzeugt davon, dass sie ihm die Wahrheit
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