Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
Verstand besessen, und das war eine Gabe Gottes, die sie nutzen sollte, um ihr Leben und das vieler anderer Menschen besser zu machen.
Daher trat sie an den Springbrunnen und tauchte Lady Lettices Taschentuch in das Becken, bis es ordentlich nass war. Dann holte sie es heraus und wrang es aus.
Als sie ein warmes, kratziges Lachen hinter sich hörte, machte sie einen Satz und ließ das Taschentuch fallen. Sie drehte sich um und stand dem tragischen Engländer Michael Durant gegenüber.
»Ich bin Euch gefolgt, weil ich Euch den Weg zu den Waschräumen zeigen wollte. Wie ich sehe, habt Ihr eine bessere Lösung gefunden.« Er nickte zu dem Springbrunnen.
»Es ist nicht so, wie Ihr denkt.« Das war ihr schlimmster Albtraum. Er würde sie bestimmt an das Biest verraten. Dann würde sie in einem fremden Land auf die Straße gesetzt, ohne irgendwelche Mittel und ohne eine Vorstellung, wohin sie sich wenden konnte. Sie würde bestimmt sterben – oder ein schlimmeres Schicksal als den Tod erleiden. »Ich bin nicht absichtlich hier herausgegangen …«
Er hielt eine Hand hoch. »Bitte. Lady Lettice hat Eure Fähigkeit, verloren zu gehen, sehr deutlich gemacht. Was sie aber wohl nicht bedacht hat, ist vermutlich Euer Improvisationstalent. Miss …?«
»Chegwidden.« Sie machte einen Knicks, wie man es ihr in Miss Smiths Schule für junge Damen beigebracht hatte. »Emma Chegwidden.«
Im Ballsaal hatte sie Michael Durant heimlich beobachtet. Dort war er ihr nicht besonders vornehm erschienen. Er war eher ein großer, grobschlächtiger Kerl mit schweren Knochen. Sein schwarzer Anzug war aus feinstem Stoff geschneidert und sprach von einem ausgezeichneten Geschmack, sie hätte drauf gewettet, dass er bei den besten Schneidern Londons ein und aus ging. Doch die Sachen passten ihm nicht gut: Die Anzugsjacke spannte über den breiten Schultern, die Hose schlackerte um die Hüften. Das Ganze ließ ihn wie ein Schlachtross wirken, das man in die Kleidung eines Edelmanns gesteckt hatte. Seine Haare waren rot, ohne einen Hauch Grau. Seine Augen leuchteten hell und strahlend grün. Die Haut war gebräunt; er schien ein Mann zu sein, der sich gern unter freiem Himmel aufhielt.
Er verneigte sich. »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Chegwidden. Stammt Ihr etwa von den Chegwiddens in Yorkshire ab?«
»Von ebendiesen.« Wie dumm, erleichtert zu sein, nur weil Durant ihre Familie kannte, die zwar verarmt, aber durchaus respektabel war. Doch seine Worte wärmten sie. »Mein Vater war Vikar in der Kapelle zu Freyaburn nahe St. Ashley.«
»Ich kenne die Gegend gut. Sehr schön dort. Sehr ursprünglich. Vermisst Ihr Eure Heimat?«
»Oh ja. Im Frühling, wenn der Wind über das Moor pfeift und das Heidekraut niederdrückt, dann …« Ihr Atem stockte. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, nie an zu Hause zu denken. Törichte Tränen schossen ihr in die Augen, die sie oft genug zum Gespött der Leute machten.
Aber er sagte nur: »Ich finde, Moricadia unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von England, denkt Ihr nicht auch?«
»Sehr.« Sie schluckte hart und gewann die Fassung wieder. Dann zeigte sie nach Osten. »Die Stadt ist so weltoffen, hell und voller wohlhabender Besucher, die nach Zerstreuung suchen.«
»Eigentlich ist Tonagra«, er nahm ihren Finger und zeigte in die entgegengesetzte Richtung, »eher dort.«
»Oh.« Seine Korrektur war ihr nicht peinlich. Nein, ihr wurde vielmehr bewusst, wie lange es her war, seit sie mit einem anderen Menschen Kontakt gehabt hatte – zumindest einem Menschen, der es nicht darauf anlegte, sie zu erniedrigen. Seine Berührung war warm und drang durch ihren dünnen Baumwollhandschuh. Eine sanfte, leichte Berührung.
»Aber ich habe Euch unterbrochen.« Er ließ ihre Hand los, als sie nicht sofort weitersprach, fragte er: »Miss Chegwidden?«
Leicht verwirrt aufgrund ihrer mäandernden Gedanken sprach sie hastig weiter. »Hier in Moricadia sind die Spielsalons riesig und wunderschön ausgestattet. Und ja, ich wiederhole mich, so viele Besucher! So viel Wohlstand! Die Chateaus sitzen wie kleine Punkte auf den Berghängen, ähnlich den Sternen am Nachthimmel. Aber andererseits sind die Menschen hier so arm, und ich habe das Gefühl, als könnte keine menschliche Behausung und kein Bemühen der Zivilisation diese gewaltigen Berge oder die verwilderten Wälder an den Hängen bezähmen.« Sie erinnerte sich an die enge, gewundene Straße, auf der sie in Lady Lettices Mietkutsche hergekommen waren.
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