Sündiges Geheimnis: Roman (German Edition)
Chase
Als eine Frau mit üppig gepudertem, kunstvoll frisiertem Haar die Halle betrat, erwachte Miranda schlagartig aus ihrer Trance – und wurde zudem einer Antwort auf die reichlich frivole Bemerkung des Viscount enthoben. Denn als ernsthafte Frage ließ sich das ja kaum bezeichnen.
Um auf den ersten Blick die Bedeutung dieser Frau zu erkennen, hätte es der kostbaren Juwelen, die an Hals und Handgelenken hingen, im Haar und an den Fingern steckten, gar nicht bedurft. Sie bekundete es mit ihrem Gang, mit der Art und Weise, wie sie sich in Szene setzte – sie besaß das absolute Gespür für den richtigen Moment. Kaum jemand wagte mehr, sich nach ihrem Auftritt vom Platz zu bewegen. Miranda kam es vor, als würden die meisten ehrfürchtig erstarren, sie natürlich nicht ausgenommen.
Jetzt hob die Frau gebieterisch ihre Hand und verlangte, ohne ein Wort sagen zu müssen, allgemeine Aufmerksamkeit. Miranda war beeindruckt und dachte an Georgette, die sie glühend beneiden würde, so etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben.
Lady Banning schaute kurz in die Runde und ging geradewegs auf den Viscount zu. Die anderen setzten daraufhin ihre Unterhaltung fort, gedämpfter vielleicht als zuvor.
»Lord Downing.«
»Lady Banning.« Er neigte sich über die dargebotene Hand. »Noch immer unterwerfen sich alle Ihrem Kommando, wie ich sehe, und Sie sind so schön wie am Tag Ihres Debüts.«
»Und Sie reden immer noch mit Engelszungen, Downing. Selbst Ihr Vater könnte sich nicht an mein Debüt erinnern, und Sie waren an jenem Tag nicht einmal ein Gedanke in seinem seichten Hirn.«
»Hätte er Sie damals gesehen, wäre ich nicht nur ein Gedanke gewesen.«
Die Countess musterte ihn kühl, jedoch mit einem Anflug von Belustigung. »Übertreiben Sie es nicht, mein Lieber.«
»Niemals würde ich so etwas in Ihrer Gegenwart wagen, Lady Banning – es sei denn, es würde mir einen Platz in Ihrer Nähe sichern.«
»Ein Halunke wie eh und je.«
»Und Ihre Zunge, Mylady, ist unverändert messerscharf.«
»Das gebe ich zu.« Die Countess berührte ihr kunstvoll frisiertes Haar. »Wen haben wir denn da?«
Eisblaue Augen schienen Miranda zu durchbohren. Von den anderen Leuten war sie übersehen worden. Nicht so von der Hausherrin – Lady Banning entging offenbar nichts.
»Nur Miss Miranda Chase, Countess.« Die Mundwinkel des Viscount zuckten. »Eine Verkäuferin von niedrigem Stand.«
»Hm. Als würden Sie eine unbedeutende Person zu mir bringen, Downing.« Langsam ging Lady Banning um Miranda herum und inspizierte sie. »Woher kommen Sie, Mädchen?«
»Aus Leicestershire, Mylady. Jetzt arbeite ich für Main Street Books an der Bond Street.«
Lady Banning nickte, eine kaum merkliche Bewegung unter dem Gebirge aus Haaren und Juwelen. »Eine kleine, wiewohl renommierte Buchhandlung.«
»Vielen Dank, Mylady«, sagte Miranda und bemühte sich, nicht zu stottern.
»Und welchen Leckerbissen haben Sie heute für mich, Downing?«
»Eine illustrierte Handschrift aus dem zwölften Jahrhundert.« Als der Viscount sein Bündel öffnete, ließ das hereinfallende Licht die vergoldeten Reliefs des Einbands funkeln.
»Ich besitze viele Bilderhandschriften«, erwiderte Ihre Ladyschaft. Weder ihre Miene noch ihre Haltung verrieten, was sie dachte.
»So etwas wie diese haben Sie mit Sicherheit bislang nicht gesehen, Countess.«
Ihr Blick würde die meisten Männer einschüchtern, nicht so Downing. Er blieb gleichmütig, gerade respektvoll genug, um nicht unhöflich zu wirken. Forschend schaute sie Miranda an. »In zehn Minuten. In meinem Studio. Zuerst muss ich mich um diesen Pöbel kümmern.«
Während sie in die Mitte der Halle ging, eilte auch Downing davon. Miranda folgte ihm und fühlte sich wie ein Hündchen, das sich in seiner eigenen Leine verhedderte. In einem langen Gang, der in einen Nebenflügel führte, verlangsamte er seine Schritte, damit sie ihn einholen konnte. Offenbar kannte er den Weg.
Sie betraten einen üppig ausgestatteten Raum voller Kunstgegenstände und Kuriositäten. In der Mitte stand ein Globus mit vergoldeten Meridianen. Miranda betrachtete ihn fasziniert und berührte einen der glitzernden Streifen. Hastig zog sie ihren Finger zurück, als sie Downings prüfenden Blick spürte. »Tut mir leid, ich …«
»Was tut Ihnen leid? Dass Sie Lady Bannings billigen Globus angefasst haben?«
»Der ist nicht billig«, widersprach sie und strich noch einmal über die glänzende Oberfläche. »Ein sehr schönes
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