Süß ist die Angst
nicht von ihren Notizen. Sie sah selten jemandem in die Augen, was, wie Sophie in einem längeren Lernprozess begriffen hatte, kulturelle Gründe hatte.
»Ich habe einen Hinweis bekommen, dass jemand aus der Jagd- und Naturschutzbehörde illegal Adlerteile vertreibt.«
»Adlerteile?«, tönte es einstimmig.
Kat nickte.
»Wenn ein Adler versehentlich getötet oder tot aufgefunden wird, sollten die Wildhüter ein gewisses Prozedere einhalten, um Federn, Klauen und andere rituelle Körperteile an die Schamanen zu verteilen. Anscheinend hat jemand Teile an Nicht-Indianer verkauft. Ich habe mich heute mit dem Informanten getroffen, aber bis zur Deadline werde ich nichts Substanzielles haben.«
Und das reichte aus, dass Tom sich erneut erbost darüber ausließ, in was für eine katastrophale Lage die Nation geraten würde, wenn es den Politikern gelang, den Schutz solcher Informanten zu verringern oder auch nur in Frage zu stellen.
Sophies Gedanken drifteten ab. Hatten Megan und ihr Baby einen warmen sicheren Ort für die Nacht gefunden? Was gab sie dem Baby zu essen? Wie weit glaubte sie kommen zu können, bevor die Polizei sie fand und wieder ins Gefängnis zurückbrachte?
»Alton!«
Unsanft wurde Sophie wieder in die Gegenwart katapultiert.
»Ich will einen Folgeartikel zu dem gestrigen schreiben und herausfinden, ob so etwas schon einmal passiert ist. Immerhin sollte es ein überwachtes Treffen sein. Aber wenn ich nicht auf irgendetwas Dramatisches stoße, kann ich höchstens zwei Spalten füllen.«
Syd gab die Zahlen ein.
»Haben wir Bilder von dem Baby?«
»Keine neuen.« Sophie betrachtete ihre Notizen. »Ich habe eben einen anonymen Hinweis bekommen. Ich soll um ein Interview mit Megans Bruder bitten, der ebenfalls sitzt.«
»Meine Güte, liegt das in den Genen?« Matt verdrehte die Augen. »Hat die Frau denn noch Verwandte in Freiheit?«
Aus irgendeinem Grund fand Sophie Matts Kommentar nicht komisch.
»Ich habe das Antragsformular ausgefüllt und die Akte des Bruders angefordert. Ich habe keine Ahnung, was er mir zu sagen haben könnte.«
Tom lehnte sich zurück.
»Tja, das werden wir wohl nur auf eine Art herausfinden.«
Sophie traf sich mit Officer Harburg zum Lunch in einem Sushi-Restaurant.
»Wir sind darum bemüht, dass Frauen möglichst nicht ins Gefängnis müssen. Viele sind Mütter und die meisten nicht gewalttätig. Die, die letztlich hinter Gittern landen, haben wirklich einiges auf dem Kerbholz.«
Sophie schob ihren Notizblock zur Seite, um Platz für ihre Suppe zu machen. Sie begegnete Harburgs Blick und erkannte, dass sein Interesse tatsächlich nicht nur beruflich war. Daran ließen seine schönen blauen Augen und sein warmer Tonfall keinen Zweifel. Einen Moment lang erlaubte sie sich die Vorstellung, wie es wohl war, ihn zu küssen.
Nun, vielleicht kein Feuerwerk, aber auch nicht abstoßend.
»Ich dachte, Männer seien die schwierigeren Fälle.«
»Oh, ja, das auf jeden Fall.« Er nahm die Stäbchen und rührte seine Misosuppe um. »Der Großteil der Gewaltverbrechen im und außerhalb des Gefängnisses wird von Männern begangen. Aber Frauen sind schwerer wiedereinzugliedern.«
»Und wieso?« Sie tauchte den Löffel in die Suppe und probierte.
»Auf die meisten weiblichen Straffälligen trifft das zu, was wir Dual-Diagnose nennen: Zu der gewöhnlichen Drogen- oder Alkoholabhängigkeit kommen psychische Probleme.« Er nahm sich ein Stück Tofu. »Es gibt leider nur wenige Therapieangebote für weibliche Straftäter.«
»Aber werden sie nicht im Gefängnis therapiert?«
»Dazu hat der Staat in der Regel nicht genug Geld. Außerdem sind die Frauen meistens arm. Das Gefängnis bietet ihnen eine bessere Ernährung und eine sicherere Unterkunft, als sie draußen hätten. Keine Zuhälter, die sie verprügeln. Keine Kinder, die sie ernähren müssen. Keine mühsame Arbeitssuche.«
»Aber dasselbe gilt doch im Grunde für männliche Straftäter, oder?«
»Ja, aber Männer haben draußen bessere Therapieangebote, sie kriegen eher wieder Arbeit und werden besser bezahlt. Männer sind im Allgemeinen energischer und unabhängiger. Vor allem müssen die wenigsten Kinder allein aufziehen. Zudem – und das ist entscheidend – haben Männer eine andere emotionale Basis. Frauen entwickeln im Gefängnis enge Freundschaften, deren Unterstützung ihnen dann später in der Freiheit fehlt. Männer werden mit dieser Problematik nicht konfrontiert.«
Sophie versuchte, sich das Leben
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