Süß ist die Angst
Obwohl die Heizung voll aufgedreht war, hatte sie noch immer das Gefühl, ständig zu frieren, und der Arzt hatte ihr bestätigt, dass es eine Weile dauerte, bis man sich von Unterkühlung erholt hatte.
Die Decke aus seidenweicher Chenille war ein Geschenk von Tessa. Wie David waren auch ihre Freundinnen für sie da. Sie riefen ständig an oder kamen auf dem Weg zur Arbeit bei ihr vorbei, brachten ihr etwas mit oder plauderten einfach ein Weilchen. Reece hatte erreicht, dass der Prüfungsausschuss eine Untersuchung im DOC forderte. Julian hatte eine Streife organisiert, die regelmäßig durch ihre Straße kam, und koordinierte mit den zuständigen Behörden im ganzen Staat die Fahndung nach dem entflohenen Sträfling. Das I-Team hatte Blumen geschickt.
»Sie haben den Redaktionsschluss verpasst, Alton«, stand auf der Karte. »Raus aus dem Bett und zurück zur Zeitung.«
Sie fühlte sich geliebt, beschützt … und entsetzlich schuldig.
Ihr Bruder und ihre Freunde taten alles, was sie konnten, damit sie wieder auf die Füße kam, und sie hatte ihnen noch nicht einmal die ganze Wahrheit erzählt.
Vor allem hatte sie nichts davon gesagt, dass sie Hunt von früher kannte. Aber die Nacht, die sie damals mit ihm verbracht hatte, war ihr eine kostbare Erinnerung gewesen, und Hunt hatte diese Erinnerung zerstört. Zu akzeptieren, was aus dem Mann geworden war, den sie mit der Zeit wahrscheinlich verklärt hatte, kam ihr im Augenblick zu erdrückend vor, um sich damit auseinanderzusetzen, und nichts von dem, was in der Berghütte passiert war, konnte der Polizei dabei helfen, ihn zu fassen. Sie wussten wahrscheinlich sogar mehr als sie. Die Tatsache, dass sie vor zwölf Jahren mit diesem Mann geschlafen hatte, konnte keinerlei Auswirkungen auf die Ermittlung haben.
Sie hatte allerdings auch immer noch nichts von dem gesagt, was er ihr in Bezug auf seine Schwester erzählt hatte. Aber Sophie war Journalistin. Wenn sie einwilligte, Informationen vertraulich zu behandeln, dann war sie verpflichtet, es zu tun, in welcher Lage sie sich auch befand. Sie hatte von Reportern gehört, die lieber ins Gefängnis gegangen waren, als ihre Quellen zu verraten. Natürlich war Hunt keine Quelle im eigentlichen Sinne. Sie war seine Geisel gewesen, als er sie gebeten hatte, sein Geheimnis zu bewahren. Und aus diesem Grund würde kein Journalist im ganzen Land es ihr verübeln, wenn sie zur Polizei ginge und ihr alles verraten würde.
Und genau da lag das Problem.
Sie wollte nicht, dass die Polizei ihn erwischte.
Was stimmte plötzlich nicht mehr mit ihr?
Einen Moment lang war sie niedergeschlagen, im nächsten reizbar, dann wieder ängstlich, als würde etwas Schreckliches bevorstehen. Tagsüber fühlte sie sich schlapp und müde, und nachts lag sie wach und dachte daran, wie Hunt sie geküsst hatte, dachte daran, was er ihr gesagt hatte, und machte sich Sorgen um Megan und Emily. Hatte er sie schon gefunden? Waren sie in Sicherheit? Und wenn er tatsächlich schon längst erfroren war, wie die Polizei glaubte? War wirklich jemand hinter Megan und Emily her? Und hatte dieser Jemand sie noch vor Hunt gefunden?
Sophie versuchte, es niemanden spüren zu lassen, aber natürlich konnte sie ihren Freundinnen nichts vormachen. Tessa und Kara schoben ihre Launenhaftigkeit auf das Trauma, und wahrscheinlich stimmte das zum Teil sogar. Das Geiselmartyrium war entsetzlich gewesen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Eine Weile hatte sie tatsächlich gefürchtet, er würde sie umbringen.
Aber das war nicht das Schlimmste gewesen.
»Willst du Milch?«, rief David aus der Küche.
»Zu warmen, klebrigen Keksen?«, erwiderte sie. »Ja, was denn sonst?«
Falls Hunt einfach nur ein dahergelaufener Verbrecher gewesen wäre, irgendein irrer Mörder, der ihr die Knarre an den Kopf gehalten und sie in die Berge gezerrt hätte, dann hätte sie ihn hassen und vergessen können. Aber dummerweise war ein Mann, den sie einst vergöttert hatte, für das traumatische Erlebnis verantwortlich. Ein Mann, der ihr immer noch etwas bedeutete. Wie sonst sollte sie ihre Reaktion auf seinen Kuss erklären?
Gott, sie fühlte sich benutzt. Und so dumm. Und darüber hinaus … todunglücklich.
Wo bist du jetzt, Hunt?
Sein Name war Marc, rief sie sich in Erinnerung. Marc Hunter.
In den vergangenen Tagen war sie alles immer wieder in ihrem Geist durchgegangen, hatte versucht zu verstehen, versucht, die Teile zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen,
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