Süß ist die Angst
haben, um dich zu einem Interview ins Gefängnis zu locken. Er gibt außerdem zu, er habe Hunter auf seine eigene Bitte hin nur Handschellen angelegt, beteuert aber, von den Ausbruchsplänen nichts gewusst zu haben. Das DOC hat ihn natürlich sofort entlassen. Ich dachte, ich fange die Reaktionen ein und frage nach, was man auf höherer Ebene dazu sagt.«
Tom nickte.
»Okay. Dann an die Arbeit.«
Marc sah zu, wie der silberne Lexus auf die Einfahrt bog und in der geräumigen Dreier-Garage verschwand.
Na endlich.
Er hatte den ganzen Morgen über gewartet und war immer ungeduldiger geworden. Wo zum Teufel konnte man sich als Rentner montags in aller Früh herumtreiben? Im Tennisklub? Botox-Behandlung für Paare? Er wartete fünf weitere Minuten, dann trat er aus dem Schatten, in dem er sich verborgen hatte, und ging über den Bürgersteig zur Haustür. In den blankgeputzten Scheiben der Fenster erhaschte er für einen Moment sein Spiegelbild.
Kurzes Haar. Teure Sonnenbrille. Schwarzer Anzug. Brauner Trenchcoat. Er sah aus wie ein Spion oder wie jemand, der eine religiöse Botschaft zu verkünden hatte … und genauso sollte es sein.
Er drückte auf die Klingel und wartete.
Ein großer Mann mit Bürstenschnitt und gerötetem Teint öffnete die Tür.
»Ja?«
»Mr. Rawlings?« Marc hielt ihm die Hand hin.
Mr. Rawlings nahm sie.
»Ja, Sir. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Detective Marc Chambers vom Denver Police Department.« Er hielt ihm eine der Visitenkarten hin, die er im Internet bestellt hatte. »Ich möchte mit Ihnen über Ihre Tochter, Megan Rawlings, sprechen.«
Rawlings nahm die Karte und musterte sie stirnrunzelnd. »Kommen Sie bitte herein.«
Kurz darauf saß Marc auf einem beigefarbenen Sofa im Wohnzimmer und trank Tee aus einer Porzellantasse mit Goldrand. Der Raum sah aus wie eine christliche Buchhandlung, Bibeln und Bibelinterpretationen auf den Regalen, ein Kreuz an der Wand, betende Hände aus Porzellan auf einer Konsole. Mr. und Mrs. Rawlings waren gottesfürchtige Leute, das war nicht zu übersehen.
Aber man entdeckte keinen einzigen Hinweis darauf, dass in diesem Haus lange Jahre ein junges Mädchen gelebt hatte.
Keine Familienbilder. Keine Schulfotos. Keine Momentaufnahmen.
»Wir haben den Ermittlern bereits alles gesagt, was wir wissen, Detective Chambers.« Mrs. Rawlings, eine schlanke, gutgekleidete Frau, saß steif auf einem Sessel und hielt die Hände brav im Schoß gefaltet. Ihre Lippen bildeten eine dünne abwärts gerichtete Linie. »Ich fürchte, wir werden Ihnen nichts Neues sagen können.«
Marc empfand sofort eine starke Abneigung. Doch er ließ sich nichts anmerken und setzte ein freundliches Lächeln auf.
»Wenn ein Fall sich festgefahren hat, wird er manchmal einem anderen übertragen, dem vielleicht etwas auffällt, was den Ermittlern zuvor entgangen ist. Ich weiß, dass Sie all die Fragen schon beantwortet haben, aber ich würde sie dennoch gerne noch einmal stellen.«
Das Paar sah sich an, dann nickte Mr. Rawlings.
»Stellen Sie Ihre Fragen, Detective.«
Marc tat es und machte sich zu jeder Antwort Notizen auf einem Block, den er im Schreibwarenladen gekauft hatte. Hatten sie etwas von Megan gehört? Hatten sie eine Ahnung, wohin sie gegangen sein konnte? Hatte sie mit einer ihrer Schulfreundinnen Kontakt? Gab es Verwandte oder Freunde der Familie, bei denen sie untergeschlüpft sein konnte? Wussten sie von einem Ort, wo sie als Teeanger besonders gern gewesen war, einem Ort, den sie vielleicht als eine Art geheime Zuflucht betrachtet hatte?
Die Antwort auf jede Frage lautete »Nein«.
Nein, sie hatten keinen Kontakt mehr mit Megan, seit sie sie an ihrem achtzehnten Geburtstag hinausgeworfen hatten. Nein, sie wussten nicht, wohin sie gegangen sein könnte. Nein, sie hatte, soweit es ihnen bekannt war, keine engen Freunde. Nein, sie würde nicht bei Freunden der Familie unterzukommen versuchen, weil jeder wusste, dass sie mit ihr nichts mehr zu tun haben wollten. Nein, sie konnten sich keinen Ort vorstellen, wo sie gerne hinging.
Mit jeder Antwort wurde deutlicher, dass Mr. und Mrs. Rawlings keinen Pfifferling auf ihre adoptierte Tochter gaben. Megan hatte es Marc erzählt, als sie einmal eine kurze Zeit zusammengewohnt hatten, aber er hatte geglaubt, dass sie einfach zu dick aufgetragen hatte. Nun wurde ihm klar, dass er die Situation falsch beurteilt hatte. Sie hatte die Wahrheit gesagt.
»Sie müssen wissen, Detective, dass Megan nicht
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