Suess und ehrenvoll
sich Élise, ihn zu begleiten. »Sie kennen sich doch in Paris nicht aus und wissen nicht, wie man mit der Metro nach Vincennes kommt.« Die Eltern nickten zustimmend und boten Louis ihr Gästezimmer an, damit er sich waschen und vielleicht auch umziehen konnte – eine Geste, die dazu beitrug, dass Louis sich bei dieser Familie, die er gerade erst kennengelernt hatte, schon fast heimisch fühlte.
Im Fort von Vincennes östlich von Paris waren das Hauptquartier der Armee und die städtische Kommandantur untergebracht. Louis war davon ausgegangen, dass er dort nur einige Formalitäten zu erledigen habe und gleich darauf zum Bahnhof weiterfahren müsse, um nach Verdun zurückzukehren. Deshalb hatte Élise beschlossen, auf ihn zu warten und ihn zum Bahnhof zu begleiten.
Zu seiner Überraschung erwartete Louis ein gänzlich anderer Befehl. Seine Einheit sollte verlegt werden, und man sagte ihm, er könne hier in Vincennes auf sie warten. Er solle sich nur regelmäßig auf der Kommandostelle melden.
Freudig erregt stellte Louis sein Gepäck in dem Zimmer ab, das ihm als Quartier zur Verfügung gestellt wurde, und eilte zu dem nur hundert Meter vom Festungstor entfernten Café, wo Élise auf ihn wartete. »Jetzt bin ich wieder an der Reihe, Sie nach Hause zu bringen«, sagte er strahlend.
Sie guckte ihn erstaunt an, schwieg einen Moment und sagte dann: »Nein, ich will nicht nach Hause. Wir könnten spazieren gehen und zusammen zu Abend essen. Danach dürfen Sie mich heimbegleiten. Ich möchte Sie ein wenig besser kennenlernen.«
Louis fragte sich, welche gute Fee ihn plötzlich mit ihren Gaben überschüttete. Niemals hätte er von sich aus gewagt, ihr einen solchen Vorschlag zu machen.
Nachdem die jungen Leute mit der Metro in die Stadt gefahren waren, gingen sie spazieren. Da es noch früh am Abend war, hatten die Restaurants noch nicht geöffnet.
»Gehen wir zum Eiffelturm«, schlug Élise schließlich vor. »Da oben gibt es ein beheiztes Café. Wir können die Aussicht genießen.«
»Eine gute Idee«, stimmte Louis zu, »aber wir fahren nicht mit dem Aufzug. Wenn wir zu Fuß hinaufgehen, wird uns warm werden.«
Beide waren wie berauscht und zu jedem übermütigen Streich bereit. Ausgelassen wie zwei Kinder, die der Fuchtel des Lehrers entronnen sind, liefen sie lachend die Stufen hinauf. Erleichtert stellten sie fest, dass man nur ein Drittel des Turms zu Fuß besteigen durfte. Doch auch diese etwa siebenhundert Stufen waren kein leichtes Unterfangen gewesen. Atemlos und glücklich standen sie in hundertzwanzig Meter Höhe und blickten auf die Stadt hinunter.
»Kommen Sie«, schlug Louis vor, »auch in dieser Etage gibt es ein Café.«
»Nein, jetzt will ich runterrennen.«
Louis blickte in ihre strahlenden grünen Mandelaugen. »Also los!«, rief er.
Als sie sich bald darauf in einem kleinen Restaurant gegenübersaßen, fühlten sie sich schon wie alte Bekannte. Sie konnten sich gar nicht schnell genug austauschen. Élise studierte Malerei und Kunst und hatte zwei ältere Brüder, die beide in der Armee dienten. Der eine war Flugzeugmechaniker, der anderebei der Marine. »Er steht im Kampf gegen die deutschen U-Boote«, betonte sie. Ihre ältere Schwester war mit einem Berufssoldaten verheiratet und hatte drei Kinder. Élises Eltern hatten sich auf der Oberschule im Elsass kennengelernt. Ihre Familien hatten etwa zur gleichen Zeit ihre Heimat verlassen und waren nach Paris gezogen, wo sie sich wiedergetroffen hatten. Élises Vater war Elektriker, ihre Mutter Deutschlehrerin, wie viele andere ehemalige Elsässer, die in Frankreich Deutschunterricht gaben.
Der Abend verging wie im Fluge, doch um die letzte Metro nicht zu verpassen, mussten sie schließlich aufbrechen. Louis brachte Élise nach Hause. Er hatte sich vorgenommen, sie auf die Wange zu küssen, bekam aber im letzten Augenblick weiche Knie. Élise spürte zwar seinen unausgesprochenen Wunsch, beschloss aber, dass sie an diesem Abend schon genug unkonventionelle Initiative gezeigt hatte, und begnügte sich mit einem Händedruck.
Doch als Louis wie angewurzelt stehen blieb, nachdem sich ihre Hände voneinander gelöst hatten, pfiff sie auf die Konvention und sagte lächelnd: »Sie können mich morgen besuchen.«
»Gern«, fiel Louis ihr beinahe ins Wort, »um welche Zeit?«
»Kommen Sie zum Mittagessen. Meine Mutter wird bestimmt nichts dagegen haben«, sagte sie immer noch lächelnd und ging zur Haustür.
Louis war so aufgeregt, dass er den
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