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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Blicke.
    Erst am Bahnhofsausgang ergriff Élise wieder das Wort:»Vielen Dank für Ihre Hilfe! Jetzt komme ich allein zurecht. Ich nehme gleich eine Droschke. Danke sehr.«
    Louis meinte in ihrem Blick zu lesen, dass sie nichts dagegen hätte, den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern, und fasste sich ein Herz. »Darf ich mit Ihnen fahren?«
    Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Gewiss war er zu weit gegangen. Sie hatte sich doch schon von ihm verabschiedet. Wieso wagte er es, sie weiter zu belästigen?
    Doch dann traute er seinen Ohren kaum. Sie lächelte und sagte: »Warum nicht? Wohin müssen Sie denn?«
    »Nach Vincennes. Aber erst später.«
    Auch während der Fahrt sprachen sie nicht viel. Die Gegenwart des Fahrers machte sie verlegen.
    »In welcher Etage wohnen Sie?«, fragte Louis, als sie ausstiegen.
    »Die Wohnung meiner Eltern ist im dritten Stock.«
    »Dann werden Sie mir sicher erlauben, Ihnen die Koffer nach oben zu tragen.« Was hätte er gesagt, wenn sie nicht von der elterlichen, sondern von ihrer eigenen Wohnung gesprochen hätte? Wäre er dann so mutig gewesen, ihr dieses Angebot zu machen?
    Élises Eltern waren zu Hause. Nachdem sie ihre Tochter umarmt und geküsst hatten, reichten sie Louis die Hand. Sie mochten um die sechzig sein. Élise war ein spät geborenes Kind.
    Sie empfingen den fremden Begleiter ihrer Tochter mit großer Herzlichkeit. »Nichts freut uns mehr, als einen französischen Soldaten willkommen zu heißen, und erst recht in diesen Zeiten«, versicherten sie, und Louis spürte, dass sie es ehrlich meinten. »Kommen Sie herein«, forderten sie ihn auf. »Vielen Dank, dass Sie unserer Tochter geholfen haben.«
    Beim Aperitif kam eine gelöste Stimmung auf. Olivier und Cathérine Lichentins offene, aufgeschlossene Art erleichterte es Élise, unbefangen mit dem wildfremden Mann zu plaudern, der ihr plötzlich in der elterlichen Wohnung gegenübersaß.Auch der schüchterne Louis, der sich erst bei der Ankunft in Paris endlich ein Herz gefasst und Élise angesprochen hatte, taute in der lockeren Atmosphäre auf.
    Louis und seine Gastgeber stellten zu ihrer Überraschung fest, dass beide Familien jüdischer Herkunft waren. Élise und ihre Eltern kannten die ungewöhnliche Geschichte der jüdischen Gemeinde von Bordeaux nicht und wussten daher nicht, dass Naquet dort ein traditioneller Name war. Louis hatte seinerseits noch nie den Namen Lichentin gehört und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass die Familie aus dem Elsass stammte. Als das Elsass 1871 vom Deutschen Reich annektiert worden war, hatten die Lichentins ihre angestammte Heimat verlassen und sich in Paris niedergelassen, weil sie Franzosen bleiben wollten.
    »Ich habe immer gedacht, Elsässer, ob Juden oder Nichtjuden, trügen deutsch klingende Namen«, warf Louis ein.
    »Das stimmt«, bestätigte Olivier. »Unsere Familie hieß ursprünglich Lichtenstein. Doch als unsere Heimat dem deutschen Kaiserreich einverleibt wurde, wollten meine Eltern ihrer Treue zu Frankreich Ausdruck verleihen und änderten ihren Namen. So wurde aus Lichtenstein ein französisch klingender Name.«
    Olivier erhob sich, forderte Louis auf, ihm zu folgen, und zeigte auf die große Wand des Salons gegenüber der Sitzecke, in der sie saßen. »Sehen Sie?« Er deutete auf einen ziemlich großen Flecken.
    »Das ist mir schon aufgefallen«, entgegnete Louis, »es sieht aus, als ob der Anstreicher eine Ecke übersehen hätte.«
    Cathérine lächelte. »Er hat die Ecke nicht angestrichen, weil wir ihn darum gebeten haben. Vielleicht kennt man das in Bordeaux nicht. Diese jüdische Tradition ist nach der Französischen Revolution in vielen Teilen Frankreichs in Vergessenheit geraten. Juden haben in ihren Häusern immer irgendeine Stelle unfertig gelassen, zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und als Ausdruck der Sehnsucht nach demLand unserer Väter. Wir haben wie viele ehemalige Elsässer die alte Tradition wieder aufgegriffen, doch wir meinen nicht Jerusalem damit, sondern unsere elsässisch-französische Heimat. Sehen Sie sich den Flecken genauer an, Herr Leutnant! Erinnert er Sie an etwas? Die Form des Fleckens ist nicht zufällig gewählt. Der Anstreicher hat eine Stelle frei gelassen, die der geografischen Form des Elsass entspricht. Eine Landkarte unserer alten Heimat!«
    Als es Nachmittag wurde, musste Louis sich auf den Weg machen, um sich bei der Kommandostelle zu melden, ehe es weiterging an die Front. Diesmal erbot

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