Suess und ehrenvoll
er mit Élise in Paris verbracht hatte. Seine Liebe zu ihr hatte ihn verwandelt. Er war nicht mehr zu schüchtern und ängstlich.
Er berichtete ausführlich über seine Erlebnisse mit Élise, beschrieb sie als eine Frau, die er bewunderte, erzählte von ihren Eltern, ihrer Herkunft, ihren Berufen und ihrem herzlichen Verhältnis zu ihm. Von den Mahlzeiten im Hause Lichentin,von seinen Abenteuern mit Élise in der großen Stadt. Doch bei aller Offenheit und Begeisterung setzte er sich Grenzen. Er deutete nicht einmal entfernt einen körperlichen Kontakt, geschweige denn eine sexuelle Beziehung zwischen ihm und Élise an. Was er geschrieben hatte, ging weit genug. Er hatte ihnen sogar offenbart, dass er Élise liebte. Dass auch sie ihm ihre Liebe gestanden hatte, traute er sich nicht zu schreiben.
Es gab Dinge, an die er sich kaum zu erinnern wagte. Wie ungeschickt und unsicher hatte er sich bei der ersten körperlichen Annäherung angestellt! Élise hingegen wirkte ihrer selbst sehr sicher und flößte in ihrer ruhigen Art auch ihm Vertrauen ein. Dabei hatte sie gar keine Erfahrung auf diesem Gebiet. »Bisher habe ich nur einen oder zwei Jungen geküsst, das war alles«, gestand sie ihm.
Doch sie hatte seine Schüchternheit schnell durchschaut. Er fürchtete, nicht gut genug für sie zu sein. Und so war ihr klar, dass sie zumindest in der ersten Phase die Stärkere sein musste. Und wie recht sie hatte! Louis kam nicht umhin, sich an seine zwiespältige Erfahrung mit Madame Poirier zu erinnern, obwohl er sich redlich bemühte, die Erinnerungen an ihre Berührungen zu verdrängen. Was hatte Madame Poirier mit Élise zu tun? Élise liebte er, mit Élise ging es nicht um eine rein sexuelle Affäre und vor allem nicht um eine einseitige Angelegenheit. Bei Élise musste er sich würdig erweisen.
Und Madame Poirier war nicht sein einziges Problem … Trotz oder vielleicht wegen seiner mangelnden Erfahrung hatte Louis Gespräche unter seinen Altersgenossen über sexuelle Themen immer gespannt verfolgt und sein Wissen auch mithilfe der modernen französischen Literatur bereichert. Er war intelligent genug, um die Spreu vom Weizen zu trennen, und hatte zumindest theoretisch begriffen, dass Liebe auf Gegenseitigkeit beruht und dass man sich um eine solche Liebe ständig bemühen muss, damit sie nicht zur bloßen Gewohnheit wird. Dennoch gab es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Louis gestand sich ein, dass er sich nicht immer beherrschen konnte. Es schmerzte ihn besonders, wenn er den Höhepunkt zu früh erreichte. Er ahnte nicht einmal, wie geduldig Élise mit ihm war, um seinen Stolz nicht zu verletzen. Sie wusste, dass sie warten konnte und empfand seine schnellen Ergüsse wie einen kindlichen Übereifer, der sich ihrer Liebe bald fügen würde.
Aber woher sollte Louis wissen, ob er sie wirklich und wahrhaftig liebte? Vielleicht war alles nur ein sinnlicher Rausch, der allmählich verebben würde, wie erfahrene Freunde ihm erzählt hatten. Gérard hatte ihm einmal gestanden: »Wenn ich mit einer Frau schlafe, glaube ich fest daran, dass ich bis über beide Ohren in sie verliebt bin. Doch sobald mein Verlangen gestillt ist, schwindet meine Begeisterung. Meine Gedanken wandern zu anderen Dingen, die nichts mit der Frau zu tun haben, mit der ich im Bett liege. Und glaube mir, ich rede nicht von Prostituierten. Wenn ich eine Frau auch danach noch begehre, wenn ich bei ihr bleiben will und mich nach ihrer Nähe sehne, erst dann werde ich wissen, dass ich wirklich verliebt bin. Und wenn ich nach dem Akt mit ihr über meine Gefühle reden kann und sie mit mir über die ihren, kann ich hoffen, dass es mehr als eine flüchtige Beziehung ist. Wenn es so weit ist, dass ich nichts mehr fürchte als eine Trennung von ihr, dann ist es wahre Liebe. Aber das habe ich noch nie erlebt. Vielleicht gibt es gar keine Liebe, und ich bilde mir das alles nur ein.«
Louis hatte den Kopf geschüttelt. Nein, die Liebe war keine Einbildung, wie Gérard glaubte. Sie war ihm nur noch nicht begegnet. Doch ihm, Louis, war dieses seltene Geschenk zuteil geworden, und er nahm es dankbar und glücklich an.
Aber diese Dinge konnte er seinen Eltern nicht schreiben. Er hatte ihnen berichtet, dass er verliebt war, und das musste genügen. Stattdessen beschrieb er die Begegnung mit Dreyfus. Sobald der lange Brief fertig war, schickte er ihn ab, ohne ihn noch einmal zu lesen. Insgeheim befürchtete er, dass er sein Liebesgeständnis bereuen und
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