Suess und ehrenvoll
auch diesen Brief nur in der Tasche mit sich herumtragen würde.
In den nächsten Wochen fand Louis kaum Zeit zum Schreiben. Am 16. April begannen die Franzosen unter ihrem neuen Oberbefehlshaber Robert Nivelle eine ebenso massive wie sinnlose Offensive wie vor einem Jahr die Deutschen bei Verdun. »Innerhalb von 48 Stunden«, so hatte die französische Führung versprochen, werde der Krieg jetzt vorbei sein. Den 7000 Geschützen, den Luftangriffen, die jetzt hinzukamen, und den 200 »Tanks« der Franzosen und Engländer könnten die Deutschen nicht standhalten.
Tatsächlich erlitten die Deutschen schwere Verluste, auch ihre Truppen waren am Ende der Kräfte, doch es gelang ihnen, ihre Verteidigungslinien auf dem Höhenzug zu halten. Die französische Führung hatte (ebenso wie vorher die deutsche) die Abwehrkraft des Stacheldrahts und der Maschinengewehre weit unterschätzt. Das neue, tragbare deutsche MG 08/15 mähte die ungeschützten Infanteristen zu Hunderten nieder, und die überwiegende Mehrzahl der neuen französischen »Schneider-Tanks« wurde durch Artilleriefeuer zerstört, ehe sie überhaupt in den Kampf eingreifen konnten. Es gab keinen Soldaten, der während der vierwöchigen Kämpfe nicht zumindest leichte Verwundungen davontrug. Die medizinische Versorgung brach völlig zusammen.
Auch Louis hatte es ein paarmal erwischt. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie eine einzige Wunde. Zum Glück waren seine Verletzungen nur oberflächlich. Doch die Erbitterung, die er und seine Kameraden empfanden, war alles andere als oberflächlich. Die französische Führung musste zugeben, dass es bei einigen Regimentern zu Meutereien gekommen war, und ließ brutale Erschießungen vornehmen.
Den Befehl zum Abbruch der Offensive erteilte der neue Oberbefehlshaber Philippe Pétain. Er ordnete nicht nur die Einstellung der Sturmangriffe, sondern auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Truppen an. Im Zuge dieser Maßnahme wurde vielen Frontkämpfern ein Heimaturlaub bewilligt.
Auf diese Weise kam Louis im Kriegsjahr 1917 zum zweiten Mal in den Genuss eines dreiwöchigen Urlaubs. Diesmal beschloss er, nicht nach Bordeaux zu fahren, sondern die Zeit in Paris zu verbringen. Élise schrieb ihm, dass ihre Eltern ihn einluden, bei ihnen zu wohnen – »natürlich im Gästezimmer«. Neben diese Worte hatte sie ein ironisch lächelndes Gesicht gezeichnet.
Louis wurde von einer Welle des Glücks überschwemmt. Plötzlich tat ihm nichts mehr weh. In dem Lastwagen, der ihn und seine Kameraden zum Zug nach Paris brachte, wurde noch Post verteilt, die wegen der schweren Kämpfe an der Front wochenlang liegen geblieben war. Louis, der seit dem Ende der Offensive einige Briefe von Élise bekommen hatte, erhielt auf einmal einen ganzen Stapel Post. Sie hatte ihm offenbar täglich geschrieben. Welche Freude! Nun konnte er die ganze Reise nach Paris lesend verbringen! Ein besonders dicker Brief war von seinem Vater. Früher hätte er sich darauf gestürzt, doch nun ging Élise vor. Erst nachdem er ihre Briefe zum zweiten und dritten Mal gelesen hatte, öffnete er den Brief von zu Hause.
Lieber Louis,
der Brief, in dem Du von Élise erzählst, ist gerade hier eingetroffen. Selbst wenn Du die Sehergaben unserer biblischen Propheten besäßest, hättest Du keinen besseren Zeitpunkt wählen können, um mir zu schreiben. Dass Dein Brief mich gerade jetzt erreicht, erscheint mir wie ein Wunder. Du kannst Dir nicht vorstellen, welches Geschenk Du mir damit gemacht hast. Élise, ja, Deine Élise, die ich gar nicht kenne, sie ist das Geschenk. Das höchste Glück für mich.
Louis, mein über alles geliebter Sohn! Bei Deinem letzten Besuch zu Hause habe ich Dir angesehen, dass Du mein ver ä ndertes Aussehen wahrgenommen hast. Diskret und zurückhaltend, wie Du bist, hast Du geschwiegen und auch Deiner Mutter und Deinen Schwestern nichts davon gesagt.
Doch ich habe Deinen Blick gesehen und die Gefühle geahnt, die Dich bewegten. Ja, Louis, das ist ein Abschiedsbrief. Wenn dieser Brief Dich erreicht, bin ich nicht mehr am Leben.
Eine unheilbare Krankheit zerstört meinen Körper. Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich kann meiner Familie keine Stütze mehr sein. Bliebe ich am Leben, würde ich Euch nur zur Last fallen. Alle, auch ich selbst, würden darunter leiden. Und selbst dann wären meine Tage gezählt. Ich habe daher beschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Das wollte ich Dir gerade mitteilen, doch anstatt Dir voll Schmerz
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