Suess und ehrenvoll
ganzen Weg zur Metro rannte und hüpfte. Inzwischen regnete es in Strömen. ›Wenn ich tanzen könnte‹, fuhr es ihm durch den Kopf, ›würde ich mitten auf der Straße im Regen tanzen‹.
Nachts konnte er vor Aufregung nicht einschlafen. Seine Stimmung schwankte zwischen der Besorgnis, dass er am nächsten Tag wegen der schlaflosen Nacht keine gute Figur machen würde, und dem Glück über die Gefühle, die ihn bestürmten. Schließlich setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb seinem Vater.
Als er am nächsten Morgen viel zu früh erwachte, fragte er sich, wie er die Zeit bis zum Mittagessen überstehen sollte. Was konnte er bis dahin machen? Nichts. Einfach gar nichts. Aufs Lesen konnte er sich nicht konzentrieren. Durch Paris laufen? Nein, allein hatte er keine Lust. Von jetzt an wollte er nur noch mit Élise spazieren gehen.
Schade nur, dass er keine Zivilkleidung mit sich führte. Bei allem Stolz auf die Uniform fand er, dass zivile Kleidung besser zu einem Rendezvous passte. Dann fiel ihm der Brief an den Vater ein, der immer noch in seiner Tasche steckte. Er setzte sich in seinem bescheidenen Zimmer in der Kaserne hin, griff nach Feder und Papier und versuchte, den nächtlichen Brief fortzusetzen. Doch er war zu aufgewühlt, um seine Gedanken geordnet zu Papier zu bringen. Er steckte den Brief wieder ein.
25
F RANKREICH
— Frühjahr 1917 —
Zwei Wochen später saß Louis wieder im Schützengraben. In seinem Bataillon herrschte beklommene Spannung. Sie waren mit einem Großteil der Armee an die neue Front am Chemin des Dames nordwestlich von Reims verlegt worden. Gerüchte sprachen von einer Million französischer Soldaten, die hier konzentriert worden waren. Die laue Frühlingsluft und das milde Wetter konnten ihre bange Stimmung nicht vertreiben. Obwohl aufgrund der strengen Geheimhaltung keine Informationen zu ihnen durchdrangen, spürten alle, dass die Tage des Abwartens die Ruhe vor dem Sturm waren.
An Louis’ Frontabschnitt hatten die Vorbereitungen schon begonnen. Im Schutz der Nacht wurden immer mehr Geschütze herangeführt, die nächtlichen Geräusche waren nicht zu überhören.
Eines Tages sprach sich herum, dass sich der Befehlshaber der neuen Artilleriestellungen zu einem Koordinierungsgespräch mit dem Bataillonsführer treffen würde. Solche Gespräche zwischen den Artillerie- und Infanteriekommandeuren waren Routine, doch diesmal erregte der Besuch Aufsehen.
Gérard war der Erste, der Louis davon erzählte. »Weißt du, wer der Artilleriekommandeur ist, der den Chef besucht? Du wirst es nicht glauben: Hauptmann Alfred Dreyfus! Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt. Ich dachte, er hätte den aktiven Dienst längst quittiert. Stattdessen ist er zum Oberstleutnant befördert worden!«
Louis wurde von wachsender Erregung gepackt. ›Was für eine Geschichte‹, dachte er. ›Dreyfus, der Held des großen Dramas! War er wieder eingezogen worden? Warum auch nicht, viele pensionierte Militärs – wie auch Philippe Pétain – waren noch einmal in den Krieg gezogen.‹
Louis schloss sich den anderen Offizieren und Soldaten an, die sich vor dem Bunker des Bataillonsführers drängten. Bald darauf traten die beiden Kommandeure heraus, um die Stellungen in Augenschein zu nehmen. Ja, das war er tatsächlich! Louis fühlte sich sogleich an die alten Bilder von ihm erinnert, derselbe Schnurrbart, derselbe Kneifer.
»Schau dir das an«, sagte Gérard.
Als die beiden Kommandeure und ihre Entourage näher kamen, bahnte sich Louis einen Weg durch die Menge, trat auf Dreyfus zu, nahm Haltung an und salutierte zutiefst ergriffen. Dreyfus grüßte zurück, gab ihm die Hand und ging weiter. Louis wusste sich vor Freude kaum zu fassen. ›Das werde ich meinen Eltern schreiben, und zwar sofort‹, beschloss er.
Doch zunächst schrieb er an Élise. Erst nachdem er ihr seine Erlebnisse ausführlich beschrieben und seine Liebe beteuert hatte, machte er sich endlich daran, auch seinen Eltern zu berichten.
Er zog den ersten, mittlerweile schon zerknitterten Brief an seinen Vater aus der Tasche und lächelte in sich hinein. ›Schau her‹, dachte er, ›darin habe ich noch geschrieben, dass ich mich in die Nase eines Mädchens verliebt habe. Heute weiß ich, dass ich in das ganze Mädchen verliebt bin, nicht nur in seine Nase. In den ganzen Menschen, nicht nur in die äußere Erscheinung.‹ Und schon nahm er die Feder zur Hand und fing an, beiden Eltern von den zwei Wochen zu erzählen, die
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