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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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wirkte noch verhärmter als sonst.
    Im Zug, der nach Norden fuhr, saß Louis in Gedanken versunken. Alles ging ihm durch den Kopf: seine Familie, die geliebte Heimatstadt, die Freunde, die er wie bei seinem vorigen Urlaub wieder nicht getroffen hatte. Warum kann man Soldaten aus einer bestimmten Stadt nicht gleichzeitig Urlaub geben? Nun ja, träumen darf man ja wohl noch. Selbst wenn es dumme Träume sind.
    Er dachte auch an Madame Poirier. Ein seltsames Abenteuer, das er so bald nicht vergessen würde. Doch er wünschte sich keine weiteren Erlebnisse dieser Art. Mit Liebe hatte das nichts zu tun.
    Wie kam es, dass er noch keine Frau gefunden hatte? ›Nicht einmal im Gymnasium hatte ich eine richtige Freundin‹, dachte er. ›Wahrscheinlich bin ich zu schüchtern und zu introvertiert. Aber vielleicht zog ja gerade das Frauen wie Madame Poirier an.‹
    Und dann merkte er, dass ihm gegenüber ein Mädchen saß.

    C her Papa,

    ich muss Dir unbedingt von dem eigenartigen Vorfall erzählen, der mir heute früh widerfahren ist: Ich habe mich in eine Nase verliebt.
    Ja, Du hast richtig gelesen, in eine Nase. Ich bin heute Morgen in den 5-Uhr-45-Zug nach Paris eingestiegen. Ich gehe also in ein Abteil, in dem nur noch ein einziger Platz frei ist (Du weißt ja, wie voll die Züge in diesen Kriegszeiten sind). Ich mache es mir gemütlich. Der Zug fährt ab, und ich sehe mir flüchtig meine Mitreisenden an. Das übliche Bild: Eine ältere Dame, die ein wohlerzogenes, lesendes Mädchen begleitet. Zwei Infanteriesoldaten in Uniform. Ein gut aussehender Mann im schwarzen Redingote, mit schwarzer Krawatte und Stehkragen. Ein Notar, nehme ich an. Mir gegenüber sitzt eine junge Dame, die – ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen – die vorbeiziehende Landschaft bewundert. Was mich etwas pikiert, verdiene ich doch – zumindest meiner bescheidenen Meinung nach – gerade in Uniform etwas Aufmerksamkeit.
    Ich schaue sie mir also mit wachsendem Interesse genauer an. Sie hat ein perfektes Profil: eine leicht gewölbte Stirn, gut definierte Wangen, einen kindlichen Mund und vor allem eine in vollkommener Harmonie mit ihrem Profil stehende Nase. Die Nase ist nicht sehr groß, an ihrer Spitze ganz leicht nach oben gebogen, eine Nase, die man küssen möchte. Das verwirrt mich sehr.
    Ich nehme mich zusammen. Was würden die anderen Passagiere sagen, wenn ich mich zu solchen Ausfällen hinreißen ließe? Und überhaupt, woher weiß ich, dass diese junge Frau nicht jeden Reiz verlöre, wenn ich sie von vorne sähe. Ich denke an einen Ausspruch von Dir: »Wer einer Frau den Kopf verdrehen will, sage ihr, sie habe ein schönes Profil.« In diesem Fall wird aber mir der Kopf verdreht.
    D er Zug wird langsamer. Wir treffen in Paris ein. Die junge Frau wendet sich leicht in meine Richtung. Dieses Dreiviertelprofil ist noch um ein Vielfaches schöner, als ich es mir hätte vorstellen können. Mein Herz schlägt. Bin ich bereits verliebt? Sie jedoch wirft mir einen bösen Blick zu. Sie muss gemerkt haben, wie ich sie während der gesamten Reise angestarrt habe. Wie kann ich sie um Verzeihung bitten? Wie kann ich sie wiedersehen?
    Sie steht auf, nimmt einen Koffer und versucht, eine große Hutschachtel aus der Ablage zu holen. Zu hoch. Ich will ihr helfen und greife unbeholfen danach. (Die Schachtel ist rund, nicht leicht zu fassen, und ich bin darin nicht sehr geübt.) Die Schachtel fällt ihr beinahe auf den Kopf. Sie lacht. Ich springe auf den Bahnsteig und reiche ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
    Ich habe es geschafft.
    Louis hatte geschwankt, ob er den Brief an beide Eltern richten sollte, dann aber wegen des heiklen Themas beschlossen, sich nur seinem Vater anzuvertrauen. ›Er wird schon wissen, was er der Mutter vom Inhalt des Briefes erzählt‹, dachte Louis.
    »Mein Name ist Louis Naquet.« Mit diesen Worten hatte er sich an das Mädchen gewandt. Erst jetzt fielen ihm ihre mandelförmigen grünen Augen und ihre hohe, schlanke Gestalt auf.
    »Ich heiße Élise«, erwiderte sie, »Élise Lichentin.«
    »Darf ich Sie begleiten?«, fragte er. »Ich helfe Ihnen gerne mit Ihrem schweren Gepäck.«
    »Nun, Ihr eigenes Gepäck scheint auch nicht gerade leicht zu sein.«
    »Das stimmt«, sagte Louis, »aber ich bin daran gewöhnt.« Damit schulterte er seinen riesigen Militärrucksack und griff mit jeder Hand einen von Élises Koffern. Schweigend schritten sie den Bahnsteig entlang und wechselten nur verstohlene

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