Suess und ehrenvoll
sagen, dass sie sofort die Arbeit einstellen und still sein sollten. Das Hämmern wurde lauter. Louis erschrak: ›Das sind die Deutschen! Womöglich haben sie dieselbe Idee gehabt und einen Tunnel in Richtung auf unsere Stellungen gebaut! Was ist, wenn sie genau dieselbe Route gewählt haben und direkt auf uns zu graben? Wenn wir unter der Erde aufeinanderstoßen? Wie sollen wir kämpfen, wenn wir uns kaum rühren können? Und wenn unsere oder ihre Sprengladung im Handgemenge explodiert?‹Louis lauschte noch ein paar Sekunden und kam zu dem Schluss, dass die Deutschen genau auf sie zuhielten. Die Bodenverhältnisse diktierten ihnen dieselbe Route.
Er stieß den Bergmann vor ihm noch einmal an und befahl den sofortigen Rückzug. Während die Bergleute in geduckter Haltung rückwärtskrochen, bereitete Louis weiter die Sprengladung vor. Der Feldwebel, der als Letzter an ihm vorbeikam, sah ihn entgeistert an. Louis machte sich nicht die Mühe, ihm seine Absichten zu erklären, und bedeutete ihm mit einer nervösen Handbewegung, schnell weiterzukriechen. Ihm kam es darauf an, dass die Bergleute den Stollen räumten, damit er sich schnell zurückziehen konnte.
Als der Weg frei war, brachte er die Sprengladung dort an, wo er gerade stand, weil er keine Zeit damit verschwenden wollte, sie zum Ende des noch engeren Stollens zu bringen. Er richtete sie dorthin aus, wo er die deutsche Front vermutete, befestigte die Zündschnur an der Ladung und hielt das andere Ende mit aller Kraft fest, damit es ihm beim Rückzug nicht aus der Hand gleiten konnte. Er hoffte inständig, dass die Länge der Zündschnur es ihm ermöglichen würde, die französische Seite zu erreichen, bevor der Stollen zusammenbrach.
Doch die Zündschnur war nicht lang genug. Das Hämmern kam immer näher. Er war allein in dem engen, dunklen Tunnel. Er setzte die Zündschnur in Brand und krabbelte in panischer Angst wie ein verwundetes Tier auf den Ausgang zu, ohne zu merken, dass er seine Hände und Knie aufschürfte.
Während er, nach Luft ringend, voranhastete, ertönte eine gewaltige Detonation. Erde und Steine stürzten auf Louis herab. Alles wurde schwarz um ihn, und er verlor das Bewusstsein.
28
P AS-DE- C ALAIS
— Frühjahr 1917 —
Im März 1917 wurde Ludwig wieder an die Front geschickt, von Heimaturlaub war keine Rede mehr. Da sein Bein noch nicht voll einsatzfähig war, wurde er einstweilen in der Funkkoordination zwischen Artillerie und Luftstreitkräften eingesetzt. Als Akademiker, so vermuteten seine Vorgesetzen, konnte er auch Aufgaben übernehmen, die über den Grabenkampf hinausgingen.
Die Funksysteme waren ständig verbessert worden. Zum ersten Mal wurden auch in Kampfflugzeugen Funkgeräte installiert, die eine direkte Verbindung zur Artillerie und damit kombinierte Luft- und Artillerieangriffe auf die feindlichen Linien ermöglichten. Der Stab der Koordinierungseinheit, zu der Ludwig abkommandiert worden war, hatte sich im Frontabschnitt Vitry-Sailly etabliert.
Am Morgen des 8. April suchte Ludwig mit dem Fernglas den Himmel ab. Er wartete auf ein Bombengeschwader, das von einem Feldflughafen gestartet war und, von Jagdflugzeugen begleitet, einen Angriff auf die französische Front fliegen sollte. Als das Geschwader am Horizont auftauchte, stellte Ludwig eine doppelte Verbindung her: mit den Befehlshabern der Artillerieeinheit, die auf Informationen von den Flugzeugen warteten, und mit einem der Piloten, der für die Funkübermittlung verantwortlich war. Zunächst ging alles nach Plan: Die Bomber überflogen die französischen Schützengräben, um die rückwärtigen Befehlsstände anzugreifen, während die Artillerie die Gräben eindeckte.
Die deutschen Jagdflugzeuge folgten ihnen, um gegebenfalls Feuerschutz geben zu können. Die Piloten ahnten nicht, dassihnen der Feind eine Falle gestellt hatte. Wie aus dem Nichts erschienen fünf französische SPAD-Maschinen, die, mit der Morgensonne im Rücken, aus dreitausend Metern Höhe im Sturzflug herabstießen. Als die Deutschen die Lage erkannten, war es zu spät. Ludwig sah voller Entsetzen, wie sich die SPADs mit rasender Geschwindigkeit auf die deutsche Staffel stürzten und eine Fokker nach der anderen abschossen.
Nur einem besonders geistesgegenwärtigen deutschen Piloten gelang es, im letzten Augenblick zu entkommen. Er ging mit seiner Albatros in den Sturzflug, fing sie gerade noch rechtzeitig ab, um nicht in die Schützengräben zu stürzen, und zog sie dann zu einem
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