Suess und ehrenvoll
Looping hoch, um hinter seine Verfolger zu kommen. Ein kühnes Manöver, das nur um Haaresbreite gelang.
Der Deutsche nutzte den taktischen Vorteil und feuerte, sobald er eine SPAD vor sich hatte, aus seinem Zwillings-MG. Eine Rauchfahne hinter sich herziehend, verschwand der französische Doppeldecker in einer Baumgruppe. Doch statt zur Basis zurückzukehren, flog die Albatros im großem Bogen zur Front zurück und griff im Alleingang die restlichen vier französischen Flieger an. Einer der Franzosen vollführte einen Looping, um sich zu retten, ein zweiter fiel getroffen zu Boden, doch der dritte raste von hinten auf die Albatros zu und landete offenbar einen Volltreffer. Der rechte Flügel der Albatros brannte.
Jetzt erst schien der Pilot den Rückzug antreten zu wollen und steuerte auf die deutschen Linien zu. Ludwig konnte den Umriss des Mannes deutlich gegen den Himmel erkennen. Aber die SPADs waren nicht gewillt, ihn entkommen zu lassen. Mit einem zweiten Feuerstoß machten sie ihm den Garaus. Der Rumpf der Albatros ging in Flammen auf, das Cockpit kippte nach unten und stürzte senkrecht ab. Das Flugzeug löste sich in seine Bestandteile auf, noch bevor es am Boden aufschlug.
Ludwig stolperte seinen Kameraden hinterher, die wie besessen in die Richtung rannten, in der sie das Wrack vermuteten, über Felder, die mit Granateinschlägen und Bombentrichtern übersät waren, während die französischen Flieger von oben auf sie schossen. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Überreste der Albatros. Von dem Piloten waren nur zerrissene Körperteile übrig, die über das Feld zerstreut waren, doch Ludwig konnte sein Gesicht erkennen. Es war Wilhelm Frankl.
Im Mai bekam Ludwig endlich Urlaub. Die lange Heimreise, erst im Lastwagen und danach in drei überfüllten, schwerfällig schwankenden Zügen, war für Ludwig mit seinem immer noch empfindlichen Bein nicht besonders bequem.
Der Ankunft in Frankfurt sah er ungeduldig entgegen. Der Gedanke an das Wiedersehen mit Karoline ließ sein Herz schneller schlagen. In die Sehnsucht mischte sich auch ängstliche Beklemmung. War Karoline dieselbe geblieben, oder hatte sich bei ihr etwas geändert? Liebte sie ihn noch? Zwar hatte er bei seinem Urlaub vor über einem Jahr nicht gespürt, dass ihre Liebe zu ihm nachgelassen hatte. Doch was war seitdem geschehen?
Ihm fuhr die Erinnerung an einen schmerzlichen Zwischenfall im Grabenkrieg vor Verdun durch den Kopf. Kurz bevor er verwundet wurde, fiel ihm ein Kamerad seiner Abteilung auf, dessen Einheit zur Verstärkung geschickt worden war. Sigmund schien in schlimmer seelischer Verfassung zu sein. Ludwig glaubte, er habe einen Gefechtsschock erlitten. Als erfahrener Frontkämpfer, der zwei Jahre Grabenkrieg hinter sich hatte, fühlte er sich verantwortlich für die neuen Soldaten, die fast noch Rekruten waren. Sie wirkten schwach und verloren und brauchten Unterstützung und Aufmunterung.
Als Ludwig ihn vorsichtig fragte, wie es ihm gehe, nahm Sigmund ihn gar nicht wahr, als befände er sich in einer anderen Welt. Er starrte mit einem seltsamen Ausdruck vor sich hin und schien nichts zu sehen oder zu hören. Schließlich schüttelte ihn Ludwig an der Schulter und wiederholte seine Frage mit größerem Nachdruck.
Sigmund holte mit verzerrtem Lächeln einen Brief aus der Tasche und sagte in bitterem Ton: »Da, lies selber, dann hast du die Antwort.«
Der Brief war kurz und kam aus einem kleinen Ort in Brandenburg, von dem Ludwig noch nie gehört hatte. Die Schrift war weiblich, fast ein wenig kindlich.
Lieber Sigmund!
Es stimmt, dass ich Dir in der letzten Zeit nicht viel geschrieben habe. Auch heute bin ich etwas in Eile, entschuldige bitte, dass ich nicht ausführlicher schreibe. Ich habe Deine Briefe bekommen und danke Dir dafür. Es tut mir so leid, zu hören, wie schwer Ihr es an der Front habt. Der Krieg ist für uns alle schwer, aber das weißt Du ja selber.
Ich möchte Dir etwas über Richard Weber erzählen, an den Du Dich vielleicht noch aus unserer Schulzeit erinnerst. Er war in unserer Klasse und wohnt nicht weit von Deinen Eltern. In der letzten Zeit treffen wir uns öfter. Wegen seines Gesundheitszustandes dient er in einer Einheit nicht weit von hier und kommt oft nach Hause. Wir sind nur befreundet, aber da alle schon über uns klatschen, möchte ich verhindern, dass Du von Dritten davon erfährst. Ich wollte es Dir lieber selbst erzählen. Nimm es Dir nicht zu Herzen. Gib auf Dich acht, lieber
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