Suess und ehrenvoll
Beobachtungen ergab sich schließlich ein vollständiges Bild des Geschehens«, sagte er. »Die Deutschen haben tatsächlich auch einen Tunnel gegraben. Unserer Schätzung nach hatten sie viel mehr Sprengstoff herangeschafft als wir. Anscheinend waren sieschon so nahe an uns herangekommen, dass die von Ihnen ausgelöste Detonation auch ihre Sprengladung zur Explosion brachte. Der Tunnel und die dahinter liegenden Stellungen des Feindes wurden vollständig zerstört. Was das im Einzelnen für Auswirkungen hatte, wissen wir nicht, aber nach Auskunft unser Späher wurden gewaltige Schäden verursacht. Die Deutschen holten sofort Verstärkung, um die Bresche in ihren Befestigungen zu schließen. Doch das Wichtigste ist, dass Sie uns wahrscheinlich vor einer Katastrophe bewahrt haben. Hätten Sie das Vorhaben der Deutschen nicht rechtzeitig bemerkt, wären wir womöglich alle in die Luft geflogen. Ihr schneller Entschluss, die Sprengladung nicht an der geplanten Stelle, sondern direkt an Ihrem Standort zu zünden, hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet.«
De la Meurette machte eine Pause und sah Louis an, der noch kaum begriffen hatte, was geschehen war. Zu sehr war er mit den heftigen Schmerzen in der Brust beschäftigt.
»Danke, Herr Oberstleutnant«, murmelte er.
»Das ist noch nicht alles, Naquet. Ich habe Ihre Militärakte geprüft und festgestellt, dass Sie schon zwei Orden bekommen haben: die Militärmedaille und die Verdun-Medaille. Sie sollen wissen, dass ich Sie für eine weitere Auszeichnung empfohlen habe: das Croix de guerre mit zwei Palmzweigen.«
Louis unterdrückte ein trauriges Lächeln. Wenn das sein Vater noch erlebt hätte …
Beim Abschied drückte ihm de la Meurette die Hand. »Da hier im Augenblick nicht viel los ist, wurde beschlossen, Sie nach Ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus zur Genesung ins Hinterland zu schicken und Ihnen einen wohlverdienten Urlaub zu gewähren. Das wäre alles. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«
»Ja, bitte. Können Sie veranlassen, dass man mir Papier und Bleistift bringt?«
»Aha«, lachte der Bataillonsführer, »Sie wollen Ihren Elternschreiben und sich Ihrer Heldentat rühmen! Natürlich lasse ich Ihnen Schreibzeug bringen.«
Doch in seinem Brief an Élise erwähnte Louis das Sprengstoffdrama, den Orden und seine Verwundung nicht. Er teilte ihr nur mit, dass er Urlaub bekommen werde und dass sie ihn auch schon vorher in dem Genesungsheim besuchen könne. Er steckte die wenigen Zeilen in einen Umschlag und bat die Krankenschwester, den Brief so bald wie möglich abzuschicken. Danach drehte er sich auf die Seite und suchte eine Lage, in der ihn die Rippen weniger schmerzten.
30
O STFRONT
— 1917 —
Sie blieben lange im Bahnhof stehen. In enger Umarmung sahen sie einander an, ohne ein Wort zu sagen. Tränen standen ihnen in den Augen. Tränen des Glücks und der Aufregung. Sie nahmen nicht wahr, wie der Bahnhof sich leerte, und küssten sich immer wieder. Schließlich lächelte Karoline und griff nach Ludwigs schwerem Rucksack, der auf dem Boden stand, doch er kam ihr zuvor, nahm ihn auf die Schultern und fasste nach ihrer Hand. Mit verschlungenen Fingern verließen sie den Bahnhof, genossen die Strahlen der Frühlingssonne. Noch immer sprachen sie kaum, genossen schweigend das Wiedersehen.
Ihr erstes Ziel war die Meldestelle in der Festhalle. Karoline bekam die Erlaubnis, mit ihm in den Warteraum zu gehen. Zu Ludwigs Überraschung nahm der diensthabende Soldat nicht nur seine Personalien auf, sondern überreichte ihm auch einen Umschlag und forderte ihn auf, den Inhalt zur Kenntnis zu nehmen und den Empfang durch seine Unterschrift zu bestätigen.
Karoline, die keinen Blick von ihrem Liebsten wandte, fühlte einen Stich im Herzen, als sie sah, dass Ludwig beim Lesen des Schriftstücks blass wurde und mit zitternder Hand unterschrieb. Im Hinausgehen sah sie ihn fragend an, und Ludwig sagte mit düsterer Miene: »Man hat mir den Urlaub gekürzt, und zwar radikal – von drei Wochen auf drei Tage. Dafür bin ich jetzt Feldwebel.«
»Aber warum?« Mehr brachte Karoline nicht heraus.
»Keine Ahnung, du hast ja gesehen, dass der Soldat mir kein Wort der Erklärung gegönnt hat. Am Montagmorgen muss ich wieder hier sein.«
Doch bis dahin waren noch drei Tage Zeit. Und die wollten sie nutzen. Sie eilten zu Ludwigs Eltern, um seine Mutter zu umarmen und seinem Vater kurz die Hand zu drücken. Dann gingen sie zu Friedes Wohnung. Karolines Eltern
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