Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
Vom Netzwerk:
Freund.

    Deine Charlotte
    Als Ludwig den Brief erschüttert zurückgeben wollte, streckte Sigmund die Hand nicht aus und ließ ihn fallen. Der Wind wehte ihn fort, und der junge Soldat starrte wieder mit leerem Blick vor sich hin.
    War Karoline der langen Trennung möglicherweise nicht auch überdrüssig? Aus den Augen, aus dem Sinn, sagt der Volksmund. Galt das vielleicht auch für Karoline?
    ›Nein‹, sprach Ludwig sich selbst Mut zu, ›Karoline ist nicht wie andere Frauen. Wir sind nicht wie andere Liebespaare. Ich denke unentwegt an sie. Doch wenn das auf einen Soldaten zutrifft, der sich im Schützengraben nach seinem zivilen Dasein zurücksehnt, muss es dann auch für denjenigen gelten, der seinen Alltag wie gewohnt weiterlebt?‹
    Mitten in der Nacht kam der Zug endlich an. Ludwig stieg schwerfällig aus, auf dem Rücken einen Tornister, der vierundzwanzig Kilo wog. Er drängte sich durch die Massen an Uniformierten, den Blick auf die Stiefel der Soldaten geheftet, die vor ihm hergingen.
    Plötzlich blieb er stehen. Die Soldatenstiefel waren verschwunden. Vor ihm stand Karoline, die sich durch die Menge zu ihm durchgekämpft hatte. Ihr Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, das Ludwig in diesem Augenblick als den Gipfel des Glücks empfand.

29
    P ICARDIE
— Frühjahr 1918 —
    Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht, wo er war. Doch kaum hatte er begriffen, dass er nicht mehr im Stollen lag, verspürte er so starke Schmerzen in der Brust, dass ihn eine Welle von Angst überschwemmte. Was war passiert?
    Ein Mann trat auf ihn zu, stellte sich als Arzt vor und bemühte sich, ihn zu beruhigen. »Was ist geschehen?«, fragte Louis.
    »Sie waren bewusstlos«, sagte der Arzt. »Zu Ihrem Glück hat man Sie rechtzeitig gefunden und noch vor Ort beatmet. Die Sanitäter haben Sie zum Bataillonsarzt gebracht, der Sie sofort untersucht und den Transport hierher angeordnet hat. Sie befinden sich in einem provisorischen Lazarett.« Er machte eine Pause und fuhr fort: »Wir haben bei Ihnen beiderseitige Rippenbrüche diagnostiziert, die naturgemäß heftige Schmerzen verursachen. Außerdem haben Sie Abschürfungen und Prellungen am ganzen Körper. Aber Ihre Verletzungen sind nicht lebensgefährlich und werden keine Behinderung zur Folge haben. Sie werden sich relativ schnell erholen, aber noch eine Zeit lang unter starken Schmerzen leiden.«
    »Gibt es denn keine Arznei dagegen?«, stöhnte Louis.
    »Ich habe ein Pulver … gegen Kopfschmerzen«, sagte der Arzt verlegen. »Das ist alles, was wir noch übrig haben. Aber ich habe angeordnet, Sie in ein Militärkrankenhaus zu überführen. Dort bekommen Sie dann die richtigen Medikamente, die allerdings auch nur teilweise wirken. Gegen gebrochene Rippen kann man nichts machen. Der Körper heilt sich nach und nach selbst. Haben Sie Geduld. Ihrer gänzlichen Wiederherstellungsteht nichts im Wege. In ein paar Stunden werden Sie abgeholt.«
    Als es Louis nach einigen Tagen im Krankenhaus etwas besser ging, besuchte ihn sein Bataillonskommandeur, Oberstleutnant de la Meurette.
    »Naquet«, begrüßte er Louis mit breitem Lächeln, »Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich über Ihre Rettung bin. Ich habe schon manchen Offizier verloren, aber es wäre mir sehr nahegegangen, wenn Sie nach allem, was Sie getan haben, Ihren Einsatz nicht überlebt hätten.«
    De la Meurette galt als harter Bursche, der nicht zu sentimentalen Bekenntnissen neigte. Wenn ein Soldat neben ihm von einer Granate zerrissen wurde, nahm er das hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch diesmal hatte er darauf bestanden, Louis persönlich zu besuchen.
    »Sie wollen sicher wissen, was passiert ist«, fuhr de la Meurette fort. »Sie haben das Bewusstsein verloren, als der Stollen über Ihnen zusammenbrach. Die Explosion hat unseren ganzen Frontabschnitt erschüttert. Sie wurden gerettet, weil Sie den Sauerstoffschlauch nicht losgelassen haben. So haben die Bergleute Sie rasch gefunden und ausgegraben. Auf Befehl des Feldwebels sprangen sie einer nach dem anderen in den Stollen, schaufelten Erde und Steine in Behälter und reichten sie von Hand zu Hand weiter. Sie arbeiteten mit einer Kraft, wie man sie nur in Paniksituationen aufbringt, zogen Sie heraus und fingen sofort mit der Beatmung an. Niemand brauchte ihnen zu sagen, wie man das macht. Das ist ihr tägliches Brot.« Er lächelte und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand.
    »Aus der Befragung der Kumpel und unseren eigenen

Weitere Kostenlose Bücher