Suess und ehrenvoll
kommen (sofern es nicht die ranghöchsten sind …), lachen sie nur über unsere Späße.
Allerdings beschert uns der Kriegsalltag nicht nur albernen Zeitvertreib, sondern auch traurige und makabre Er l ebnisse. Vor einigen Tagen versuchte ein deutscher Trupp, im Schutz der Nacht unseren Graben zu infiltrieren. Zum Glück haben wir sie noch rechtzeitig entdeckt und konnten einige von ihnen töten und den Rest in die Flucht schlagen. Als es hell wurde, entdeckte mein Freund Gérard mit dem Periskop die Leiche eines Angreifers, die wenige Meter von unserem Graben entfernt lag. Der Kopf mit dem Stahlhelm war uns zugewandt, die Beine zeigten nach der deutschen Seite. Gérard zupfte mich am Ärmel. »Siehst du dieses schöne Eiserne Kreuz am Helm des Deutschen? Das will ich mir holen.«
»Bist du wahnsinnig?«, zischte ich ihm zu. »Dafür musst du aus dem Graben klettern. Willst du dein Leben für ein bisschen Blech riskieren?«
Gérard zögerte und schwankte, doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Als es dunkel wurde, kroch er hastig zu der Leiche, packte den Helm mit beiden Händen und zerrte daran. Plötzlich merkte er zu seinem Schrecken, dass er nicht nur den Helm, sondern auch den Kopf abgerissen hatte. Entsetzt schleuderte er den Kopf mitsamt dem Helm und dem Eisernen Kreuz von sich.
Eine noch traurigere Geschichte, der nicht einmal eine gewisse makabre Komik anhaftet, ist in den letzten Tagen passiert. Einige Hundeliebhaber unter den Soldaten hatten streunende Hunde adoptiert, um sich die lange Wartezeit zu vertreiben. Herrenlose Hunde, die meistens aus zerstörten Dörfern kommen, gibt es überall an der Front. Manchmal entwickelt sich eine enge, vertrauensvolle Freundschaft zwischen Herr und Hund. Doch eines Tages kam der Befehl, die Hunde wegzuschaffen, weil sie durch ihr Gebell die Soldaten gefährdeten und bei Angriffen oder Gegenangriffen im Weg seien. Laut Befehl sollten die Hundebesitzer die Tiere in einem der benachbarten Dörfer abgeben oder sie auf andere Weise loswerden. Jeder Hund, der sich dann noch sehen ließe, werde von den Gendarmen erschossen, hieß es. Einer der Abteilungs f ührer meiner Kompanie, Leutnant Edmond Boulay, liebte seinen vor Kurzem adoptierten Hund heiß und innig und beschloss daher, ihn zu einem der Bauern in der Umgebung zu bringen. Er ging kilometerweit und fand schließlich eine Bauernfamilie, die den Hund zu sich nahm. Den Rückmarsch zur Front legte er leichteren Herzens zurück. Er hatte den Hund nicht nur gerettet, sondern auch ein neues Heim für ihn gefunden.
Doch am nächsten Morgen war Edmonds Hund wieder da. Aus Angst vor den Gendarmen versuchte er, den Hund schreiend und gestikulierend zu vertreiben, doch das Tier wich immer nur ein paar Schritte zurück und ging dann wieder schwanzwedelnd auf ihn zu. In seiner Verzweiflung griff Edmond nach einem dicken Knüppel und schwang ihn in der Luft, als wollte er dem Hund den Schädel einschlagen. Doch das treue Tier blieb stehen und sah ihn nur mit großen, traurigen Augen an. Edmond ließ den erhobenen Arm sinken. Wir verfolgten die Szene so erschüttert, als hätten wir nicht seit Jahren viel schlimmere Dinge mitangesehen. Wie die Geschichte ausging, kannst Du Dir denken. Nicht zu glauben, wie schnell die Gendarmen zur Stelle waren! So schnell sind sie sonst nur, wenn sie bei Kampfbeginn davonlaufen.
Eine andere herzzerreißende Geschichte erlebte ich in Amiens. Wir hatten ein paar Stunden Urlaub bekommen, um die Stadt zu besuchen. Der Bahnhof von Amiens ist sehr imposant für so eine kleine Stadt: Er hat eine bogenförmige verglaste Fassade, gekrönt von einem Turm mit einer gigantischen Uhr, und führt auf einen riesigen, prächtig gepflasterten Platz. Als wir ankamen, sahen wir auf dem Bahnsteig eine grauhaarige Frau mittleren Alters mit unendlich traurigen Augen, die jeden vorbeikommenden Soldaten fragte: »Haben Sie Charles gesehen? Ist Charles in Ihrer Einheit? Wissen Sie, wo Charles ist? Können Sie mir helfen, Charles zu finden?« Wer weiß, wie viele Stunden oder Tage sie schon da stand und i mmer dieselben Fragen stellte. Die Soldaten schüttelten nur den Kopf, manche gleichgültig, andere mitleidig. Niemand fragte sie, wer dieser Charles war. Ich konnte den Blick nicht von der armen Frau wenden. Was wäre, wenn ich im Krieg vermisst würde und meine Mutter am Bahnhof in Bordeaux stünde und in ihrer Verzweiflung alle aussteigenden Soldaten fragte: »Habt ihr Louis gesehen? Wisst ihr, wo Louis
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