Suess und ehrenvoll
deinesgleichen ist das Judentum so etwas wie eine Zirkusvorstellung. Ihr kommt im Alltag damit gar nicht in Berührung. Doch hier kannst du ein intensives jüdisches Leben beobachten. Das solltest du dir wenigstens einmal anschauen.«
Neugierig geworden, begleitete Ludwig seinen Freund zur Synagoge. Sogleich fiel ihm auf, dass Johann gerade in dieser Umgebung aufrechter und selbstbewusster wirkte, und das war nicht nur seiner deutschen Uniform geschuldet.
»Sag mal«, fragte er seinen Freund. »Warum gibt es eigentlich hier in Polen und der Ukraine so viele Juden?«
»Sie sind gerufen worden!«, erklärte Johann.
»Von wem?«, fragte Ludwig. »Vom lieben Gott?«
»Nein«, lachte Johann. »Das heißt, letzten Endes wahrscheinlich schon. Aber ganz konkret war es ein polnischer König. Kasimir der Große hat deutsche Ärzte, Handwerker und Bauern in sein Land gerufen, um das Königreich Polen reicher und schöner zu machen – und die Juden waren die Ersten, die kamen.«
»Warum gerade die Juden?«
»Na ja, du weißt doch: das finstere Mittelalter. Jedes Mal, wenn die Deutschen zu einem Kreuzzug gegen die Heiden aufbrachen, haben sie erst mal zu Hause die Juden erschlagen. Da waren die Juden froh, dass sie in Polen gebraucht wurden. Aber Deutsch haben sie trotzdem weiter gesprochen.«
»Aber das ist doch kein Deutsch, was die Leute hier reden. Das ist doch dieses schreckliche Jiddisch.«
»Na, so schrecklich find ich es eigentlich nicht. Es stammt halt aus dem Mittelalter. Aber es ist ganz eng verwandt mit dem Deutschen. Eigentlich heißt es Juden-Deutsch.«
»Aber die Schrift ist so komisch. Sieht aus wie Hebräisch.«
»Das ist auch Hebräisch. Die meisten Juden konnten im Mittelalter schon lesen und schreiben, was viele Christen nicht konnten. Aber sie haben halt hebräische Buchstaben benutzt, und nicht die lateinischen wie die Kirchenleute, die ständig gegen die Juden gehetzt haben. Aber die Sprache ist Deutsch.«
In der Synagoge herrschte Aufregung. Der Rabbiner und die Gemeindevorsteher waren in eine heftige Diskussion verstrickt. Als die beiden Soldaten eintraten, verstummten alle, um sogleich herzlich zu rufen: »Willkommen, willkommen!« Johann sprach die Juden mit ein paar jiddischen Worten an, was bei einem deutschen Soldaten eher selten vorkam. Auch Johann konnte das Jiddische zwar einigermaßen verstehen, aber nicht sprechen. Immerhin hatte er von osteuropäischen Auswanderern, die seine Synagoge in Worms besuchten, einiges aufgeschnappt.
Der Rabbiner und seine Gläubigen drängten sich um Johann, erzählten ihm aufgeregt von einem Missgeschick und baten ihn um seinen Rat. Ludwig versuchte, dem Gespräch zu folgen, begriff aber nicht, worum es ging. Das lag nur zum Teil an der fremden Sprache, denn Ludwig konnte sich aus Johanns deutschen Antworten einiges zusammenreimen. Doch der Inhalt des Gesprächs war ihm völlig unverständlich, denn es ging offenbar um eine religionsgesetzliche Frage.
Nachdem sie eine Zeit lang diskutiert hatten, riet ihnen Johann, sich an den Bataillonskommandeur zu wenden und ihmdas Problem zu schildern. »Dem Kommandeur selber?«, fragte der Rabbiner mit ehrfürchtigem Staunen. Ein deutscher Offizier würde bereit sein, mit einem Rabbiner zu sprechen?
»Habt ihr vergessen«, sagte Johann mit kaum verhohlenem Stolz, »dass ihr nicht mehr unter der Knute des Zaren lebt? Gewiss, unser Kommandeur ist kein Jude, vielleicht mag er die Juden auch nicht besonders. Aber er ist Deutscher, das heißt, er ist ehrlich und anständig.«
»Wenn das so ist«, sagte der Rabbiner, »werden wir das versuchen. Aber bitte begleiten Sie uns bei diesem Gespräch.«
Ludwig war sehr beeindruckt von diesem Besuch. Als sie auf dem Rückweg zu ihrer Kompanie waren, sagte er: »Die Juden haben hier eigene Dörfer. Das ist schon erstaunlich. In Deutschland gibt es so gut wie gar keine jüdischen Bauern.«
»Ja, die polnischen Könige waren sehr großzügig und haben den Juden auch erlaubt, Grundbesitz zu erwerben. Nur wenn die katholischen Geistlichen wieder einmal gegen die ›Christusmörder‹ gehetzt haben, mussten die Könige den Juden Beschränkungen auferlegen.«
»Und was hast du über die antisemitischen Zaren gesagt?«
»Die Zaren haben eine ganz andere Politik verfolgt als die polnischen Könige. Die orthodoxe Kirche hat das verlangt. Katharina die Große hat deshalb verboten, dass Juden das Heilige Russland betreten. Nur in Litauen, Polen, Weißrussland und der Ukraine durften
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