Suess und ehrenvoll
von der ausgemergelten Gestalt mit den erloschenen Augen abwenden. Er kam mir bekannt vor. Aber wieso, fragte ich mich. Wann habe ich je einen Russen kennengelernt? Vielleicht erinnert er mich an jemanden? Der Anblick dieses Mannes ließ mir keine Ruhe, auch als er den Raum längst verlassen hatte. Schließlich stand ich auf und ging aus dem Zimmer. Der Gefangene stand im Hof, bereit, weitere Befehle zu erfüllen. »Heißen Sie Appelboim?«, fragte ich ihn aus einer spontanen Regung heraus. Er erschrak und nickte unsicher. Fast flüsternd sagte er: »Da, da.«
» Pjotr Appelboim?«, fragte ich weiter und wagte es kaum zu glauben. Der Gefangene zögerte. Er schien zu überlegen, ob er dem deutschen Muschkoten weiter Rede und Antwort stehen solle. Schließlich nickte er. »Johann«, rief ich meinen Freund, »komm her und rede mit ihm!«
Und so stand kurz darauf auch Johann mit staunend aufgerissenem Mund vor einem Phänomen, das ihm beinahe übernatürlich erschien. In gebrochenem Jiddisch, das Pjotr sofort beruhigte, erzählte ihm Johann, wie wir seine Eltern kennengelernt hatten. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich wir alle drei waren. Pjotr gab uns einen Brief an seine Eltern mit, dem Johann ein paar erklärende Worte hinzufügte. Als wir zu unserem Bataillon zurückkehrten, war ich in einer Hochstimmung, wie ich sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Und ganz gewiss nicht in der Armee. Du siehst, Karoline, auch hier gibt es Lichtblicke. Und sie werden noch wertvoller, wenn ich sie mit Dir teilen kann.
Ludwig genoss wie die meisten seiner Kameraden die Waffenruhe nach den Erfolgen im Osten. Doch schon bald ereilte ihn die Nachricht, dass sein geschätzter Bataillonskommandeur Oberstleutnant Erich von Korff Anfang September bei der Eroberung Rigas schwer verletzt worden war. Er und einige seiner Kameraden beschlossen, ihn im Lazarett zu besuchen, auch wenn dies unüblich war, waren sie doch nicht mit den höheren Offizieren befreundet.
Der Offizier hatte beide Beine in Gips, konnte jedoch den Militärgruß erwidern und allen freudig die Hand schütteln. Korff schien dankbar für die Abwechslung im langweiligen Krankenhausalltag, beantwortete die Fragen nach seinem Befinden jedoch nur knapp und erkundigte sich sogleich seinerseits, wie es den Soldaten ging. Er hörte mit Skepsis, wie zufrieden sie mit der veränderten Situation waren.
»Richtig wäre es«, sagte er mit erschreckender Ernsthaftigkeit, »uns jetzt hier nicht auszuruhen, sondern sofort an die Westfront zurückzukehren. Russland kann nicht mehr kämpfen, und das Gros unserer Truppen wird hier nicht mehr benötigt. Für unsere Leute im Westen könnte unsere Hilfe aber entscheidend sein.«
»Und warum tun wir es nicht?«, fragte Ludwig.
»Das können Sie sich doch denken. Natürlich geht es darum, dass wir von den Russen Territorien und Entschädigung einfordern wollen. Ich meine, wir verlieren hier wertvolle Zeit.«
Auf dem Rückweg vom Krankenhaus kamen sie an einer Gruppe von kleinen hölzernen Kreuzen vorbei, die neben der Straße standen. An einigen hingen zerschossene Helme. Ludwig blieb stehen und las die Namen.
»Das hier scheint ein Jude gewesen zu sein«, sagte er. »Offiziersstellvertreter Immanuel Saul, gefallen am 23.8.1915.«
Johann, der das Gräberfeld nicht betreten mochte, schlug die Hand vor den Mund. »Den kenne ich«, sagte er.
»Persönlich?«
»Nein, aus der Truppenbibliothek. Er hat ein Gedicht geschrieben, ›An meine Kinder‹, das hat mir sehr gefallen. Warte mal…« Johann zog einen zerknitterten Zettel heraus und las vor:
»Als ich hinauszog, für das Vaterland
Zu streiten wider Tücke und Verrat,
Da sprangt ihr frohbewegt um mich herum –
Und jauchztet eurem tapfern Vater zu.
Euch freute wohl der kriegerische Schmuck,
Die neu errungene Würde eures Vaters,
Verborgen blieb dem kindlichen Gemüt,
Was es bedeutet, wenn von Weib und Kindern
Der Gatte, Vater zieht in Kampf und Tod. –
Doch später, wenn ihr reifer, klüger seid,
Und wenn vielleicht im Osten mein Gebein
Fern, einsam unter schlichtem Holzkreuz bleicht –
Dann wird ein Graun euch, ein Entsetzen packen,
Und jener Stunde werdet ihr gedenken,
Da er von euch den letzten Abschied nahm,
Dann tröst’ euch die Gewissheit, dass er freudig
Begeistert sich den Reihen angeschlossen,
Die kämpfen sollten für des Reiches Ruhe.
Und wollt ihr wissen dann, warum ich einst
So freudig, so begeistert mitgezogen,
Ich, dem ein süßes
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