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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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oder andere Synagoge, die sich oft glichen wie ein Ei dem anderen. Große und prächtige Synagogen gab es selten, die meisten Bethäuser waren klein und höchst bescheiden mit langen, schmalen Holzbänken ausgestattet. Als Beleuchtung dienten Petroleumlampen oder auch nur Kerzen. Der Ehrenplatz an der Ostwand, in Richtung auf Jerusalem, war dem Rabbiner vorbehalten. Er saß nicht auf einer Bank, sondern auf einem grob gezimmerten, ungepolsterten Stuhl. Nur der Schrein, der die Thorarollen enthielt, war verziert und mit einem reich bestickten Vorhang versehen. Wenn die Liturgie es erforderte, wurden eine oder mehrere Thorarollen ausgehoben, von der Gemeinde ehrfürchtig gegrüßt und behutsam auf ein Vorlesepult gelegt, damit der Vorbeter daraus vorlesen konnte.
    Johann und Ludwig schlossen sich noch andere jüdische Soldaten an, wenn nicht zum Gottesdienst in der Synagoge, dann wenigstens zu Besuchen bei jüdischen Familien. In seinem Bataillon erzählte Johann allen von dem Brauch, dass am Sabbat nach dem Gottesdienst die meisten jüdischen Häuser fremden Gästen offen standen. Er fühlte sich dazu ausersehen, Kontakte zwischen den orthodoxen Juden des Ostens und den deutschen Soldaten jüdischen Glaubens zuwege zu bringen. Vor allem ging es ihm darum, seinen Kameraden die Schönheit, Wärme und Menschlichkeit des orthodoxen Judentums nahezubringen, das den meisten deutschen Juden als kuriose Mischung aus Glaubenseifer und einer fanatischen Gesetzestreue erschien. Mussten die orthodoxen Juden nicht Hunderte von Gesetzen und Regeln einhalten, von denen eine verrückter schien als die andere?
    Die meisten jüdischen Soldaten ließen es bei einem oder zwei Besuchen der Synagoge bewenden. Ihnen genügte, dass sie »das Prinzip verstanden« hatten. Die Gottesdienste dauerten stundenlang, ähnlich wie in den christlich-orthodoxen Kirchen.Zwar musste man beim jüdischen Gottesdienst nicht die ganze Zeit stehen, aber die meisten Soldaten fanden ihn dennoch anstrengend. Dagegen waren die Sabbat- oder Feiertagsmahlzeiten bei den jüdischen Familien eine höchst willkommene Abwechslung. Die reichhaltigen, schmackhaften Gerichte, die von der Hausfrau zubereitet wurden, stellten die eintönige Armeekost weit in den Schatten.
    Der Hausherr sagte den Segen über dem bis zum Rande gefüllten silbernen Kidduschbecher, trank daraus und reichte ihn an die Familie und die Gäste weiter. Auch die beiden geflochtenen Sabbatbrote, die Challa, wurden gesegnet und an die Tischrunde verteilt. Dann wurden die klare Hühnerbrühe mit Knödeln, der Gefillte Fisch, gehackte Leber, Eier mit Zwiebeln und Kalbsfußsülze aufgetischt. Und dann kam der Höhepunkt! Man trug in einem riesigen Topf den Tscholent auf, ein Eintopfgericht aus fettem Rindfleisch, Kartoffeln, weißen Bohnen, Graupen, Zwiebeln, Knoblauch, verschiedenen Gewürzen und hart gekochten Eiern, die durch das langsame Garen eine braune Farbe annahmen. Der Tscholent wurde am Freitag vorbereitet und zum Bäcker getragen, wo er die Nacht über im Backofen stand, bis die Männer ihn gegen Mittag nach dem Morgengottesdienst abholten und nach Hause trugen. Dabei breitete sich auf der ganzen Straße ein unwiderstehlicher Duft aus.
    ›Nach einer Portion Tscholent ist ein erwachsener Mann eine Woche lang satt‹, dachte Ludwig, ›und ein Soldat an der Front einen ganzen Monat …‹ Doch selbst nach dem Tscholent wurden noch selbst gebackene Kuchen und Kompott serviert. Ohne wenigstens davon zu probieren, durfte man nicht vom Tisch aufstehen.
    Was die Soldaten amüsierte, aber auch in Verlegenheit brachte, war die Aufmerksamkeit, die ihnen die Hausfrau und ihre Töchter widmeten. Während sie zwischen der festlichen Tafel und der Küche hin- und herliefen, drängten sie die Gäste ständig zum Essen. Sie wiesen auf die gefüllten Schüsseln und mahntenin fast vorwurfsvollem Ton: »Habt ihr das schon probiert? Aber sicher zu wenig … Da hinten steht noch ein Gericht, greift bitte zu und nehmt euch noch von der Challa.«
    Der Hausherr und die Söhne standen während der ganzen langen Mahlzeit nicht vom Tisch auf und nötigten die Gäste immer wieder, von dem ungewohnt schweren süßen Wein zu trinken. Das Mahl verlief in heiterer Stimmung und wurde von Sabbatliedern und hebräischen Gebeten begleitet, die alle auswendig hersagen konnten, auch wenn sie sie zum Teil nicht verstanden. Unter den Liedern waren chassidische Weisen, denen man anhörte, dass sie von Märschen der napoleonischen

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