Suess und ehrenvoll
sie wohnen. Wenn ein Jude nach Moskau wollte, brauchte er eine schriftliche Genehmigung.«
Wenige Tage später erschien der jüdische Gemeindevorstand beim Bataillonskommandeur. Die Männer hatten sich dem Anlass entsprechend feierlich gekleidet und trugen festliche runde Pelzhüte sowie lange schwarze Mäntel mit breiten Gürteln. Johann fragte sich insgeheim, ob diese Aufmachung eigentlich jüdisch war oder von der Kleidung polnischer Adliger im Mittelalter herrührte. Als der Gemeindevorsitzende begann, seinAnliegen vorzutragen, schaukelte er mit dem Oberkörper vor und zurück wie beim Gebet in der Synagoge.
Für eine wortgetreue Übersetzung reichten Johanns Jiddischkenntnisse nicht aus, aber er konnte dem Bataillonskommandeur, Oberstleutnant Erich von Korff, zumindest die allgemeine Richtung des Antrags erklären. Dennoch vermochte von Korff dem kuriosen Vortrag keinen Sinn abzugewinnen. Und Ludwig, den Johann zu diesem Treffen mitgenommen hatte (und sei es nur, um sein jüdisches Wissen zu erweitern), ging es zunächst nicht anders.
Alles hatte damit angefangen, dass der Bataillonskommandeur wie alle anderen Kommandeure an der russischen Front seinen Soldaten befohlen hatte, auf den Straßen und in den Häusern der eroberten Ortschaften Altmetall zu sammeln. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr hatte Deutschland unter Rohstoffmangel zu leiden. Laut Befehl sollten keine Gegenstände des täglichen Bedarfs requiriert werden, nur Metallteile, die nicht lebenswichtig waren, vor allem Schrott oder selten benutzte oder weggeworfene Objekte.
In Nadwirna fanden die Soldaten etwas besonders Wertvolles: einen dünnen, über Stützen gespannten Kupferdraht. Als sie ihm folgten, entdeckten sie, dass er Hunderte von Metern lang war. Er war aber weder an eine Stromquelle noch an ein Telefon angeschlossen. Also rissen sie ihn herunter und wickelten ihn zu einer beachtlichen Rolle auf. Der Kommandeur war sehr zufrieden mit dem Fund gewesen und fiel nun aus allen Wolken, als er von den aufgebrachten Juden erfuhr, dass der Draht keine herrenlose Sache sei, sondern eine wichtige religiöse Funktion habe.
»Das müsst ihr mir näher erklären«, sagte er kopfschüttelnd.
Die Gemeindevorsteher brachen erneut in weitschweifige Höflichkeiten und Demutsbezeugungen aus, die Johann weder verstand noch ernsthaft zu übersetzen vermochte. Deshalb erklärte er den Sachverhalt so, wie er ihn verstand. »Die orthodoxen Juden dürfen ja am Sabbat nicht arbeiten und sich auch nicht über die Grenzen ihres Wohnorts hinaus bewegen, die im Allgemeinen mit der Stadtmauer identisch sind. Wenn es eine solche Stadtmauer nicht gibt, wie im Falle von Nadwirna, behilft man sich mit einer symbolischen Geste: Man umgibt die Ortschaft mit einem über Stützen gespannten Metalldraht, dem Eruw, und erklärt ihn zur Stadtmauer. Innerhalb dieser Grenze können Juden sich am Sabbat frei bewegen und Gegenstände von einem Ort zum anderen tragen. Das ist natürlich sehr wichtig für sie, denn ohne diese Grenze dürften sie am Sabbat gar nicht aus dem Haus gehen.«
Der Kommandeur kratzte sich am Kopf, während er über diese seltsame Geschichte nachdachte. Eine amüsante Anekdote, die er nach dem Krieg zu Hause erzählen konnte, aber was sollte er jetzt und hier tun?
Ludwig verfolgte die bizarre Szene mit wachsendem Unbehagen. Er fürchtete einen Wutausbruch des Offiziers, der es sicher als Zeitverschwendung ansah, sich diesen Unsinn anhören zu müssen, und dachte, er würde sie alle hinauswerfen. Aber nein, von Korff dachte lange nach und verkündete schließlich: »Ich werde euch den Draht nicht zurückgeben. Eure Bitte muss ich leider ablehnen, obwohl ich euch und eurer Religion nicht schaden will. Aber wenn ihr euch wirklich vorstellen könnt, dass ein Draht eine Stadtmauer ist, dann könnt ihr euch sicher auch vorstellen, dass in der Luft zwischen den Stützen ein Draht hängt.« Damit stand er auf, drückte seinen verblüfften Gästen die Hand, erwiderte den militärischen Gruß der beiden Soldaten und ging aus der Stube.
Johann sorgte dafür, dass Ludwig öfter in die jüdischen Gemeinden eingeladen wurde, mit denen sie an der Front in Berührung kamen. Je weiter sie in die Ukraine vorstießen, desto mehr lernte Ludwig von der jüdischen Welt kennen, die über den gesamten Osten verbreitet war. Die Herzlichkeit und Gastfreundschaftder meist bitterarmen Juden schienen keine Grenzen zu kennen. Johann schleppte Ludwig immer wieder in die eine
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