Suess und ehrenvoll
Armee inspiriert waren. Auch Johann kannte nicht alle Lieder, erfasste aber sofort den Marschrhythmus und sang ohne Worte mit. Der Wein half den Soldaten, ihre Verlegenheit zu überwinden, und nach kurzer Zeit klatschten alle in die Hände und stampften rhythmisch mit den Füßen. Selbst Adalbert vergaß seine anfängliche Schüchternheit und fiel erst leise, dann immer lauter in den Gesang ein.
Liebste Karoline,
ich könnte Dir noch und noch Geschichten und Anekdoten über dieses seltsame Osteuropa erzählen. Über den Krieg hier, der so ganz anders ist als derjenige an der Westfront. Er ist nicht weniger schrecklich und grausam. Wie viele Männer in den Julikämpfen gefallen sind und verwundet oder gefangen genommen wurden, wage ich mir kaum vorzustellen. Besonders besorgt sind wir um unsere Gefangenen. Unter welchen Bedingungen müssen sie leben? Die Gerüchte über den Zusammenbruch des Zarenregimes und damit auch der öffentlichen Ordnung in Russland, über Hungersnöte und Epidemien verheißen nichts Gutes.
Der unschätzbare Vorteil gegenüber der Westfront besteht darin, dass wir in den Kampfpausen nicht im Schützengraben sitzen müssen. Dieser Umstand hebt die Kampfmoral be t rächtlich. Wir Juden genießen noch einen weiteren Vorteil: die Zuneigung und Gastfreundschaft der einheimischen Juden, wo immer wir auch hinkommen. Sie sehen in uns einen Hoffnungsstrahl: Juden in Uniformen der deutschen Armee, die sie von den Russen befreit.
Manchmal wird mir der ostjüdische Gefühlsüberschwang allerdings fast zu viel. So aufregend und faszinierend die Begegnung mit dem vitalen Judentum des Ostens auch sein mag: Ich bin froh, dass ich einen Einblick in diese Welt gewonnen habe, aber noch froher, nach Frankfurt zurückzukehren. Letzten Endes ist das hiesige Judentum nicht mehr als eine schöne und bewegende Reminiszenz an eine Vergangenheit, zu der kein Weg zurückführt. Die Gegenwart und die Zukunft gehören dem progressiven Westen, und das gilt auch für uns Juden. Vielleicht ist mir gerade durch den Kontakt mit den »authentischen« Juden in den Dörfern und Kleinstädten des Ostens klar geworden, wie – glücklicherweise – deutsch ich tatsächlich bin.
Und doch, meine Liebste, kann man nicht alles allein mit dem Verstand beurteilen. Vor einigen Wochen waren Johann, Adalbert und ich bei einem alten jüdischen Ehepaar zu Gast. So arm diese Menschen waren, so sehr bemühten sie sich darum, uns großzügig zu bewirten. Sie waren zu bescheiden, um auch nur die geringste Bitte zu äußern, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas auf dem Herzen hatten. Daher drängte ich sie, uns zu sagen, ob wir irgendetwas für sie tun könnten. Die Alten wehrten mehrmals ab, doch dann gestand die Frau endlich, was sie bekümmerte. »Wir haben einen Sohn«, sagte sie, »das heißt, wenn er noch am Leben ist. Er heißt Pjotr Appelboim, hier ist ein Foto von ihm. So sah er aus, als man ihn mit Gewalt zur zaristischen Armee holte. Seit Kriegsbeginn ist er verschollen. Auf unsere Briefe haben wir nie eine Antwort bekommen. Deshalb wissen wir auch nicht, wohin wir schreiben sollen. Wir fürchten, dass er gefal l en ist, aber da wir keine Nachricht bekommen haben, möchten wir die Hoffnung nicht aufgeben.«
Johann, Adalbert und ich standen hilflos vor diesen armen Menschen. Wir murmelten ein paar banale Trostworte und verabschiedeten uns.
Nachdem wir die Appelboims schon fast vergessen hatten, wurde ich gestern vom Bataillonskommando mit einer besonderen Aufgabe betraut. Ich bat darum, Johann mitnehmen zu dürfen, und meine Bitte wurde gewährt. Nach einigen Stunden unbequemer Fahrt auf holprigen Wegen kamen wir zum Divisionsstab in Weißrussland. Ganz in der Nähe liegt ein riesiges Gefangenenlager. Mein Auftrag war, dem Divisionsstab einen Umschlag mit Berichten meines Bataillons zu übergeben und die entsprechenden Anweisungen und Befehle zurückzubringen. Bis diese ausgefertigt wurden, hatten Johann und ich einige Stunden Zeit. Ein Arbeitstrupp war gerade auf dem Weg ins Gefangenenlager. Ich wurde neugierig, da ich so ein Lager noch nie gesehen hatte, und erbat die Erlaubnis, den Trupp begleiten zu dürfen. Nun, ich würde Dir keinen Spaziergang durch ein Lager mit russischen Kriegsgefangenen empfehlen. Es war ein trauriger Anblick, der mich unendlich deprimierte.
Wir gingen in die Lagerkommandantur, wo uns ein russischer Kriegsgefangener heißen Tee servierte. Aus irgendeinem Grund konnte ich den Blick nicht
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