Suess und ehrenvoll
alle über die unverhofften Gaben und stellten keine überflüssigen Fragen, und natürlich landete wieder ein Großteil der Beute in Becks geheimem Warenlager.
Als der Feldwebel in der Nacht zur Latrine ging, schloss Ludwig sich an, und als sie nebeneinander auf dem »Donnerbalken« hockten, fragte er beiläufig: »Sind Sie eigentlich aus Ober- oder aus Niederbayern?«
»Aus der Nähe von Rosenheim.«
»Also mitten aus Oberbayern. Und wo haben Sie gelernt, mit Berliner Akzent zu sprechen? Und dann noch im tiefsten Bass?«
Beck zögerte einen Moment. »I woaß net, was du willst.« Er putzte sich umständlich den Hintern ab und brach dann plötzlich in lautes Gelächter aus, das er allerdings gleich unterdrückte. »Du Schlawiner«, sagte er schließlich, »ich glaub fast, du bist a Jidd. Du bist mir a bisserl zu schlau. Deshalb ist es euch ja auch gelungen, den Jesus ans Kreuz zu bringen – weil ihr so schlau seid.« Aus seiner Stimme sprach keine Wut oder Gehässigkeit, sie klang eher belustigt.
»Sie haben recht«, erwiderte Ludwig, »ich bin Jude. Na und?«
Beck warf ihm einen erschrockenen Blick zu. »Hör mal, ich hab nicht gewusst, dass du Jude bist. Ich wollte dich nicht beleidigen. Eigentlich weiß ich nichts über Juden, und ich habe noch nie einen kennengelernt.«
»Interessiert Sie das?«, fragte Ludwig.
»Was meinst du damit?«, entgegnete Beck in gedehntem Ton.
»Möchten Sie wissen, was ein Jude ist?«
»Ja«, sagte Beck zögernd, »ja, doch, gewiss. Die Juden sind uns allen ein Rätsel.«
»Dann sollten wir mit Johann reden«, schlug Ludwig vor. »Er versteht viel mehr vom Judentum als ich.«
»Wie, ist der auch Jude?«, fragte Beck mit großen Augen. »Wie viele seid’s ihr denn?«
»Ich glaube, in unserer Abteilung sind wir die einzigen«, erwiderte Ludwig, »es sei denn, dass die anderen ihre Identität verheimlichen. Es gibt keine äußerlichen Merkmale, an denen man uns erkennen kann.«
Von da an entwickelte sich eine engere Beziehung zwischen Beck und seinen beiden jüdischen Soldaten. Johanns Erklärungen über Juden und Judentum faszinierten ihn. Er hatte das Gefühl, als habe er ein historisches Geheimnis entschlüsselt, das nur wenigen Auserwählten zugänglich war.
Einige Zeit darauf wurde ein kurzer Waffenstillstand ausgehandelt, damit beide Seiten ihre Toten beerdigen konnten. Trotzaller Angriffe und Gegenangriffe hatten die Fronten sich nicht verschoben, und wenn ein Durchbruch gelang, wurden die Angreifer an der zweiten Verteidigungslinie zurückgeschlagen. Territoriale Gewinne waren nicht zu verzeichnen, obwohl die Zahl der Gefallenen ständig wuchs. Die schwelende Sommerhitze beschleunigte die Verwesung, und der Gestank wurde immer unerträglicher. Die Befehlshaber störten sich nicht daran, weil ihre Unterkünfte weit genug von der Front entfernt waren. Was sie störte, waren die Krankheiten und Seuchen, die durch die verwesenden Leichen verursacht wurden. Die Generäle konnten nicht zulassen, dass ihre Soldaten dadurch kampfunfähig wurden.
Beck gab den Befehl aus, vor der Bergungsaktion im Niemandsland Gasmasken aufzusetzen. Im Sommer 1915 waren die Masken noch eine Neuerung, und Ludwigs Abteilung hatte das Anlegen zwar geübt, aber noch keinen Gasangriff miterlebt. Eine solche Maske zu tragen war für die Männer ein Albtraum. Der Kopf dröhnte und summte, als werde er jeden Moment platzen. Die Lungen rangen nach Luft, doch was sie einsaugten, war die verbrauchte warme Luft, die der eigene Körper absonderte. Die Adern schwollen, der Schweiß floss in Strömen, man glaubte zu ersticken. Die Maskenbrille lief an und behinderte die Sicht.
Dennoch legten die Soldaten die Masken bereitwillig an. Es gab keine andere Möglichkeit, den Verwesungsgestank zu neutralisieren und sich physisch und auch psychisch vor dem Kontakt mit den Leichen zu schützen. Schutzkleidung, Stiefel und Helme, doch vor allem die gefürchteten Gasmasken waren in diesem Fall unentbehrlich. Und all das in sommerlicher Gluthitze.
Die Bergung fand nur bei Tage statt. In der Nacht wäre es den Soldaten selbst mithilfe von Taschenlampen schwergefallen, die Leichen zu identifizieren, doch vor allem war das Sicherheitsrisiko zu groß. Trotz der weißen Fahnen, die von beidenSeiten mitgeführt wurden, musste man in der Dunkelheit immer mit Zusammenstößen und Missverständnissen rechnen.
Ludwigs Abteilung war vom Morgengrauen bis zum späten Nachmittag mit der Bergung der Leichen beschäftigt. Als
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