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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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komme ich dazu? Wer bin ich denn? Zumal ich keine Ahnung habe, was eigentlich los ist. Ob unsere Offensive gelingt, ob wir an der übrigen Front die feindlichen Linien durchbrechen. Wenn ja, dann haben wir jetzt in unserem Abschnitt eine französische Enklave. Eine feindliche Stellung im Rücken unserer Truppen, allein durch meine Schuld. Verrat‹, dachte er in plötzlicher Panik. ›Man wird mir Verrat vorwerfen! Aber wo zum Teufel sind die Offiziere? Und vor allem, wo ist Beck? Wer weiß, vielleicht ist er schon durch die französische Front durchgebrochen und stürmt mit unseren Truppen voran – ohne seine Abteilung, die meinetwegen den Rückzug angetreten hat. Wenn er zurückkommt, wird er mich in Stücke reißen!‹
    Ludwig fühlte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Sein Herz klopfte wie wild, in seinem Magen rumorte es. Da fühlte er plötzlich eine Hand auf seinem Arm. Er wandte den Kopf und sah Johann. »Dein Eingreifen hat uns gerettet!«, sagte sein Freund. »Was machen wir jetzt mit den Verwundeten?«
    »Wieso fragst du mich?«, antwortete Ludwig. »Soll ich das entscheiden? Wo sind die Offiziere?«
    »Ich sehe keinen einzigen«, sagte Johann kleinlaut. »Was sollen wir nur machen?«
    Mit zitternden Knien ging Ludwig durch den Schützengraben und rief nach Sanitätern und Bahrenträgern. Niemand kam, sie hatten alle Hände voll zu tun. Langsam wurde Ludwig bewusst, dass nicht nur seine Abteilung zurückgeschlagen worden war. Die ganze Offensive war gescheitert. An der gesamten Front wurde verzweifelt nach Sanitätern gerufen.
    Kurz darauf erschien der Kompanieführer, Hauptmann Schorndorff, im Schützengraben, sah sich kurz um und sagte zu Ludwig: »Ich habe gehört, was Sie getan haben. Ihre Abteilung hat weniger Verluste erlitten als die anderen, und das verdanken wir Ihnen. Bis ein neuer Feldwebel eintrifft, übernehmen Sie hier das Kommando.« Bereits im Gehen fügte er noch hinzu: »Ich werde Sie für eine Auszeichnung vorschlagen.« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Unter anderen Umständen wäre Ludwig außer sich vor Freude gewesen. Doch jetzt empfand er gar nichts und starrte nur benommen vor sich hin.
    Mit Einbruch der Nacht wurde es etwas ruhiger, da die meisten Verwundeten abtransportiert worden waren. Aber die französischen Scharfschützen ließen Ludwig und seinen Kameraden keine Ruhe. Es war fast unmöglich, den Ausguck zu beziehen, weil sofort geschossen wurde. Trotz des Gewehrfeuers hörte man die Schreie der Verwundeten, die im Niemandsland zurückgeblieben waren und nicht geborgen werden konnten. Nach und nach verstummten sie. Entweder hatten sie das Bewusstsein verloren oder waren gestorben. Doch einer der Unglücklichen, die in den Stacheldrahtzäunen hängen geblieben waren, stieß unaufhörlich schaurige Schreie aus. Ludwig horchte angespannt. Die Stimme kannte er doch!
    »Hört mal«, flüsterte er seinen Kameraden zu, »ist das nicht der Beck?« Die anderen lauschten und nickten. Wenn man in zwanzig Meter Entfernung einen Verwundeten vor Schmerzen schreien hört, ohne ihm helfen zu können, ist das kaum zu ertragen. Doch wenn es um einen Freund geht, ist es unvorstellbar grausam. Ab und zu wagte ein Soldat, im Schutz der Dunkelheit zu dem Verwundeten zu kriechen. Doch darauf hatten die französischen Scharfschützen nur gewartet: Sie ließen Leuchtraketen aufsteigen, die das Terrain taghell erleuchteten, und schossen auf alles, was sich bewegte.
    Ludwig und seine Kameraden waren machtlos. Sie hockten die ganze Nacht mit offenen Augen in ihrem Graben. Dann trat plötzlich Stille ein, und aus dieser Stille drang die Stimme von Beck: »Na, Männer, stör ich euch beim Schlafen? Geschieht euch recht, ihr Saupreißn !« Ludwig glaubte zu hören, dass diesen Worten ein heiseres Lachen folgte. Doch vielleicht hatte er sich vor Aufregung verhört? Nach diesem trotzigen Zuruf war Beck verstummt. Keine Schreie und kein Stöhnen mehr. Nur noch Stille.

12
    F RANKFURT AM M AIN
— Frühjahr 1915 —
    Ludwig hatte seinen bevorstehenden Urlaub weder seinen Eltern noch Karoline brieflich angekündigt. Ein tief verwurzelter Aberglaube flüsterte ihm ein, sich nicht zu früh auf ein Ereignis zu freuen, dessen Eintreten nicht ganz sicher war. Das genaue Datum teilte ihm sein Abteilungsführer erst am Abend vor dem ersten Urlaubstag mit, und da war es zu spät, der Familie zu schreiben.
    Andererseits wollte er auch nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel zu Hause landen. Er selbst mochte

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