Suess und ehrenvoll
zu summen. Entschuldige bitte, wenn ich dich gestört habe, ich werde von jetzt an noch leiser sein.«
Ludwig starrte den Jungen an, als sei er eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Johann war eingeschüchtert von Ludwigs Blick, doch er ließ sich nicht beirren und sagte leise, aber bestimmt: »Das heißt aber nicht, dass ich kein guter Deutscher bin. Wäre ich sonst hier? Ich bin bestimmt nicht weniger patriotisch und loyal als du.«
Als Ludwig zu lachen begann, stand Johann auf, um der peinlichen Situation zu entfliehen, doch Ludwig hielt ihn am Ärmel fest, drückte ihn auf sein Feldbett zurück und sagte: »Lauf nicht fort! Von mir hast du nichts zu befürchten. Du hast mich nur überrascht.«
»Überrascht?«
»Ja. Ich bin nämlich gar nicht so anders als du. Genauer gesagt: Ich bin auch Jude. Aber ich bete nicht. Ich habe die Gebete nie gelernt. Und doch bin ich Jude. Und wie du mit Recht gesagt hast, bin ich auch ein deutscher Patriot, genau wie du.«
Johann setzte sich. Eine leichte Röte stieg in sein blasses Gesicht. »Du bist Jude? Du siehst gar nicht wie ein Jude aus!«
»Warum auch?«, erwiderte Ludwig. »Wie soll ein Jude denn aussehen?«
»Na ja«, sagte Johann. Und dann brachen beide in ein befreiendes Lachen aus.
»Ich habe schon eine Menge Juden kennengelernt, seit ich in der Armee bin«, sagte Ludwig. »Aber ich bin noch nie einem orthodoxen Juden begegnet. Denn das bist du doch, wenn ich dich recht verstanden habe, nicht wahr? In Frankfurt gibt es eine orthodoxe Synagoge, doch ich habe sie nie besucht. Auch in der liberalen Synagoge war ich nicht oft. Als ich mich mit dreizehn auf die Bar-Mizwa vorbereitete, bin ich ein paarmal hingegangen. Also gibt es auch in der kleinen Stadt Worms eine orthodoxe Gemeinde?«
»Ja«, sagte Johann, »und das schon seit tausend Jahren, vielleicht sogar schon seit der Römerzeit. Du darfst nicht vergessen, dass Worms, Speyer und Mainz im Mittelalter die wichtigsten jüdischen Zentren der Welt waren.«
»Seit der Römerzeit? Willst du damit sagen, wir waren eher hier als die Germanen? Vor der Völkerwanderung?«
»Kann schon sein. Aber wir waren ja immer nur ganz wenige. Ein paar Hundert oder Tausend, die mit den Legionen herumgezogen sind.«
»Wie viele Juden gibt es denn überhaupt?«, fragte Ludwig jetzt plötzlich.
»Genau weiß das keiner. In Deutschland wohl ungefähr fünfhunderttausend, in Frankreich genauso viel, auf der ganzen Welt vielleicht achtzehn Millionen. Woher soll man das wissen? Wir haben ja nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Der eine spricht Deutsch, der andere Französisch, der dritte Englisch. Jesus Christus hat Aramäisch gesprochen, und Paulus war Römer.«
»Jesus Christus war Jude?«
Johann lachte. »Ja, natürlich. Und seine Mutter auch. Was dachtest du denn? Buddhist?«
Ludwig schüttelte den Kopf. So hatte er das noch nie gesehen. Und er war sich auch jetzt noch nicht sicher, ob ihn nicht Johann auf irgendeine vertrackte Weise aufs Glatteis geführt hatte. Dieses Judentum war eine schwierige Sache, es hatte eine lange Geschichte und war sehr kompliziert. Um wieder für klare Verhältnisse zu sorgen, erklärte er nachdrücklich: »Jetzt sind wir jedenfalls Deutsche und kämpfen für unser Vaterland. Das hat der Kaiser persönlich gesagt, und daran halte ich mich.«
Johann nickte. »Wir werden allen zeigen, dass wir genauso gute Deutsche wie alle anderen sind.«
Am Tag nach diesem ersten Gespräch erfuhren die neuen Freunde, dass ein Armeerabbiner das Lager besuchen und einen Gottesdienst abhalten würde. Johann nahm diese Nachricht mit Schaudern auf: Nicht nur, dass es sich bei dem Gast um den »modernen« Rabbiner Nobel aus Frankfurt handelte – der Gottesdienst sollte auch noch in der kleinen Kirche des Lagers stattfinden. »So ist das nun mal«, erklärte ihm Ludwig. »Wie du weißt, gehören fast alle deutschen Juden dem liberalen oder reformierten Judentum an. Und was die christliche Kirche betrifft: Es würde sich hier kein Protestant weigern, einem Gottesdienst in einer katholischen Kirche beizuwohnen, und das gilt umgekehrt auch für Katholiken. Wir sind im Krieg. Du hast mir selbst erklärt, dass du auf koscheres Essen in der Armee verzichtest. Du kannst auch den Sabbat nicht halten, nicht einmal das Fasten am Versöhnungstag. Und wenn unter diesen Notstandsbedingungen weder eine Synagoge noch ein anderes Gebäude zur Verfügung steht, dann hält der Rabbiner Nobel den Gottesdienst eben in einer Kirche
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