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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Farbe bekommen. Ludwig nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Ausguck: »Du musst wissen, wie dein Frontabschnitt aussieht. Von hier aus greifen wir an, und hier wirst du Wache stehen und den Feind beobachten.« Johann bat um das Fernglas.
    »Das brauchst du nicht«, sagte Ludwig, »du kannst sie mit bloßem Auge sehen.«
    Vorsichtig schob Johann den Kopf an die Brustwehr. ›So können die Franzosen höchstens meinen Helm sehen‹, dachte er. Dann riskierte er einen Blick und traute seinen Augen nicht. »Was ist das?«, stammelte er. »Das da drüben, sind das die feindlichen Stellungen?«
    »Erraten«, antwortete Ludwig. »Was hast du erwartet? Die Rheinpromenade von Worms? Die Franzosen sind genau dreißig Meter von uns entfernt!«
    »Die Franzosen sind nur dreißig Meter von uns entfernt…«, flüsterte Johann entgeistert.
    »Allerdings, aber wir sind auch nur dreißig Meter von den Franzosen entfernt«, dröhnte eine Stimme hinter ihm. Es war ein stämmiger, rotgesichtiger Feldwebel, der lustig und gutmütig aussah und nicht in diese Umgebung zu passen schien. »Mein Name ist Joseph Beck«, sagte er. »Ich komme aus Bayern.Wollt’s ihr wissen, warum ich hier bin und nicht beim Kronprinzen Rupprecht? Ganz einfach, weil meine Einheit nicht mehr existiert. Komplett vernichtet. Ihr wisst schon: Maschinengewehre. Ratt-tat-tat-tat – weg ist die ganze Kompanie. Na ja, am liebsten würdet ihr mich gleich wieder wegschicken, was? Ja, ja, wir kennen euch Saupreißn.« Er lachte. »Dabei habt’s ihr mit mir das große Los gezogen. Ihr kriegt’s den besten Feldwebel, den man sich vorstellen kann. Ein Geschenk des bayerischen Königs an diese traurige preußische Kompanie. Ihr habt’s einfach Glück.«
    Ludwig und Johann wechselten einen amüsierten Blick. Preußen? Sie, zwei Juden aus Worms und Frankfurt, sollten Preußen sein? Preußische Katholikenfresser? Johann sprach den Schehechejanu-Segen. War es nicht ein ungeheurer Fortschritt, wenn Juden als Preußen beschimpft wurden? Beide brachen in Lachen aus.
    Beck zeigte bald, dass er sich nicht ohne Grund gelobt hatte. Keine andere Einheit genoss die Vorzugsbehandlung, die er seinen Soldaten verschaffte. Auf seine gewitzte Art gelang es ihm, mehr Verpflegung, Ausrüstung und Bekleidung für sie zu ergattern als alle anderen. Außerdem setzte er beim Kompaniechef einen neuen Plan für den Wachdienst durch, der ihnen das Leben deutlich erleichterte.
    Welchem Geheimrezept der Mann den Erfolg verdankte, konnte Ludwig nie ganz ergründen, doch er begriff bald, dass Beck ein richtiges Schlitzohr war. Er ließ nicht nur seine Überredungskünste und seinen Charme spielen, sondern konnte auch bestens »organisieren«. Jedes Mal, wenn ein Versorgungszug an der Front eintraf, verschwanden einige Säcke mit Lebensmitteln von den Wagen und fanden sich später in einer verborgenen Ecke des Unterstands wieder, in dem Beck seine Vorräte hortete.
    Schwieriger war es, Ersatz für Kleidungsstücke, Stiefel, Gasmasken und andere Ausrüstungsgegenstände zu finden, diezerrissen, beschädigt oder einfach im Schlamm versackt waren. Die Versorgungsdepots befanden sich weit hinter der vordersten Front. Beck, der sich von solchen Problemen nicht abschrecken ließ, rief Ludwig an einem relativ ruhigen Tag zu sich und befahl ihm, sich mit Johann zu diesen Depots zu schleichen. »Geht’s zum Quartiermeister, und der wird euch Kleider, Stiefel und Strümpfe für die ganze Mannschaft geben. Hier«, er drückte Ludwig eine Liste in die Hand, »der Kerl hat Befehl, euch alles zu geben, was auf der Liste steht.«
    ›Wenn das gelingt, ist es ein Wunder‹, dachte Ludwig. ›Einen Monat an der Front und schon neue Ausrüstung? Das wäre ja eine Revolution.‹
    Der Quartiermeister empfing Ludwig und Johann mit verkniffener Miene. Er konnte nicht begreifen, was ihm der Bataillonskommandeur am Telefon befohlen hatte. Die letzten Reserven einer Abteilung zur Verfügung zu stellen, die erst vor einem Monat ausgerüstet worden war, war schlicht und einfach nicht zu verantworten. Aber die Donnerstimme des Kommandanten war unmissverständlich gewesen. Diese markante Stimme mit dem Berliner Akzent hatte jeder zu respektieren. Aus gutem Grund wurde der cholerische Kommandeur von allen gefürchtet, die geringste Verzögerung zog drastische Strafen nach sich. Deshalb lieferte der Quartiermeister gehorsam alles aus, was auf der Liste stand, die Ludwig und Johann ihm vorlegten. Im Schützengraben freuten sich

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