Suess und ehrenvoll
wie gelähmt. »Ich bin trotzdem der Meinung, dass ich deine Eltern besuchen muss«, sagte er. »Es ist undenkbar, dass ich mich überhaupt nicht bei ihnen blicken lasse. Das gebietet alleine die Höflichkeit. Ich weiß immer noch, was Manieren sind, auch nach einem Jahr im Schützengraben. Komm, lass uns jetzt zu ihnen gehen. Ich bitte dich darum! Angenehm wird es nicht sein, aber es ist notwendig.« Noch während er sprach, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Wenn ich sie jetzt nicht besuche, kommt es zu einem endgültigen Bruch zwischen ihnen und Karoline, und sobald ich wieder im Schützengraben sitze, werden die Eltern versuchen, das Verhältnis zu ihrer Tochter zu kitten, und ich werde das Opfer ihrer Versöhnung sein.‹
Karoline kam Ludwigs plötzliche Entschlossenheit alles andere als gelegen. Doch sie musste einsehen, dass es besser war, nicht alle Brücken hinter sich abzubrechen, zumal sie in Frankfurt zurückbleiben würde. »In Ordnung«, sagte sie, »wir gehen zu mir nach Hause, aber nicht heute Abend. Müssen wir jetzt eine Krise heraufbeschwören, nachdem wir uns gerade wiedergefunden haben? Ich habe für diesen Abend eine kleine Überraschung geplant. Morgen haben wir immer noch Zeit, meine Eltern zu besuchen.«
Karoline hatte alles Nötige in Ludwigs Rucksack gepackt, als sie bei den Kronheims waren. »Komm, hier sind Kleider zum Wechseln«, sagte sie. »Wir gehen heute Abend groß aus. Ich habe uns einen Tisch bestellt und einen Haufen Geld eingesteckt!« Lachend gab sie ihm einen Stoß vor die Brust, als wolle sie ihn mit ihrer gezwungenen Munterkeit anstecken.
Das Restaurant war mit bunten, etwas zu grellen Farben beleuchtet. Wie ein riesiges Schild verkündete, war es nach dem Kaiser Franz Joseph benannt. »Unserem Verbündeten gebührt ein Ehrenplatz in einer der größten Städte des deutschen Kaiserreiches«, erklärte der Wirt dem jungen Paar, als er seine übliche Runde unter den Gästen machte. Einen österreichischen Akzent brachte er nicht zuwege, doch dafür zierte ihn ein Bart nach dem Vorbild des Kaisers: wild wuchernde Backenkoteletten über einem glatt rasierten Kinn. Statt der kaiserlichen Glatze hatte er eine nach hinten gebürstete Haarmähne, die einer Perücke glich. Vielleicht stellte er sich vor, dass der österreichische Kaiser in seiner Jugend so ausgesehen hatte. Er trug einen roten Frack über einer goldgestreiften Weste und ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte. Das Menü war zweifellos eine Abwechslung von der üblichen Frankfurter Kost: Frittaten- und Gulaschsuppe, Tafelspitz und Wiener Schnitzel und zum Nachtisch die berühmten Marillenknödel. Eine kleine Kapelle spielte einen Walzer nach dem anderen.
Der Wirt war allgegenwärtig: Er scharwenzelte ohne ersichtlichen Grund kreuz und quer durch den großen, voll besetztenSpeiseraum, und da die Wandspiegel zu allem Überfluss sein Bild in alle Richtungen ausstrahlten, hatten die Gäste das Gefühl, dass er sich ständig um sie bemühte. Kaiser Franz Joseph, der Verbündete Deutschlands, als vollendeter Gastgeber!
Ludwig warf einen skeptischen Blick in die Runde. »Ist das nicht ein bisschen kitschig?«
»Ja, schon«, meinte Karoline, »aber Kitsch ist doch amüsant«, und da sie sich diese kleine Spitze nicht versagen wollte, fügte sie hinzu: »Patriotischer Kitsch! Denn hier ist alles patriotisch: unser historisches Rathaus, der Römer und der Dom, wo Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurden. Und wer führte das Ende dieses Reiches herbei? Wie gewöhnlich der Erzfeind, in Gestalt von Napoleon. Und jetzt schließt sich der Kreis: In diesem großen patriotischen Krieg sind wir wieder mit dem österreichischen Kaiser verbündet. Ist das kein Grund, hier unser Wiedersehen zu feiern?«
Ludwig wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich über ihn lustig machte. Während er noch schwankte, ob er lachen oder den Beleidigten spielen sollte, fügte Karoline hinzu: »Übrigens haben wir den Österreichern auch ihre Hymne gestohlen und sie zu unserem patriotischen ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gemacht. Da ist es doch nur angemessen, in österreichischer Atmosphäre zu tafeln, nicht wahr?« Sie prostete Ludwig zu, der sich nun doch das Lachen nicht verbeißen konnte.
Ihre Gläser wurden fleißig mit »Gespritztem« gefüllt, einer Mischung aus Weißwein und Mineralwasser, und als sie sich schließlich im Walzertakt auf der Tanzfläche drehten, schwirrte ihnen der Kopf. Auf dem
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