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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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verlorenen Teils des französischen Vaterlands auch die deutsche Invasion in Belgien stoppen und die Deutschen so weit zurückwerfen wird, dass sie es nicht mehr wagen, in die Nachbarländer einzufallen.« Auch Louis war froh und vor allem erleichtert über diese Nachricht.
    Doch die Freude hielt nicht lange an. Als Louis’ Einheit das südlich von Brüssel gelegene Charleroi erreichte, war nach dem Scheitern der französischen Offensive der deutsche Gegenangriff in vollem Gange. Die französischen, britischen und belgischen Truppen wurden schwer geschlagen und traten einen Rückzug an, der einer Flucht glich. Louis wusste nicht, wie ihm geschah. Das Ganze erschien ihm wie ein einziges Chaos, wie Sodom und Gomorrha.
    De Boissieu bemühte sich nach Kräften, das Bataillon zusammenzuhalten. Louis beobachtete aus der Ferne, wie er auf einem Klappfahrrad durchs Gelände fuhr, um mit den Kompanie- und Zugführern Kontakt zu halten. Doch die Lage verschlimmerte sich zusehends. Nach einem eintägigen Eilmarsch wurde befohlen, eine Schlafpause einzulegen. Louis sank zutiefst erschöpft zu Boden. Es war nicht nur die physische Anstrengung, die so schwer zu ertragen war. Die sinkende Kampfmoral der Soldaten, die den Schock der Niederlage noch nicht verwunden hatten, belastete sie mehr als alles andere. Louis’ Stimmung sank noch tiefer, als er seinen Kompanieführer ins Funkgerät schreien hörte: »Was, wir sind auch in Mulhouse geschlagen worden? Die Deutschen haben das befreite Gebiet imElsass zurückerobert? Wir sind in vollem Rückzug?« Der Kompaniechef wiederholte jeden Satz, den er hörte, als traute er seinen Ohren nicht.
    Einige Tage später kam der Rückzug zum Stillstand. Die französischen Streitkräfte wurden an der Marne zusammengezogen, um Paris gegen die anstürmende deutsche Armee zu verteidigen.

    Liebe Maman, lieber Papa,

    Ihr erfahrt aus den Zeitungen mehr als ich über die jüngsten Entwicklungen. Glaubt mir, ich begreife gar nichts mehr, außer der Tatsache, dass wir eine Niederlage nach der anderen hinnehmen müssen und in dem Gefühl leben, dass der Feind uns vernichten wird. Wie es an der Front steht, ist mir nicht klar. Nur eines ist klar: dass eine militärische Niederlage das Schlimmste ist, was passieren kann. Vater, weißt Du noch, wie Du uns die Schlacht von Sedan in allen Einzelheiten beschrieben hast? Du hast sie als die größte Tragödie unserer Geschichte bezeichnet und sie mit der zweitausend Jahre alten Tragödie der Juden, der Vernichtung des alten jüdischen Königreichs durch die Römer, verglichen. Jetzt weiß ich, dass es noch Schlimmeres gibt. Der Rückzug aus Belgien war keine taktische Maßnahme. Nicht einmal ein militärischer Rückzug. Es waren Szenen, die ich niemals vergessen werde. Ein endloser, zermürbender Marsch, ohne Verpflegung, ohne Wasser. Das Schlimmste war jedoch, dass der Marsch kein Ziel zu haben schien. Es war kein Rückzug, sondern eine Flucht. Fliehende Einheiten lösten sich auf, vermischten sich miteinander. Galoppierende Pferde ohne Reiter, Reiter ohne Pferde. Überall Verwundete, von Soldaten getragen, doch nicht selten am Wege liegend, weil man sie nicht mitschleppen konnte. Ab und zu hörte ich Schüsse: Die Gendarmen, die sich uns anschlossen, gaben unseren sterbenden Kameraden den Gnadenschuss. Ein Hexenkessel. Geschützdonner und Pulverdampf und die deut s chen Artilleristen, die uns auf den Fersen waren. Ab und zu wurde den Truppen befohlen, sich zu sammeln und zu einem örtlich begrenzten Gegenangriff überzugehen, um den Feind aufzuhalten, damit der Rückzug mit weniger Verlusten abgewickelt werden konnte. Einmal musste sich auch meine Kompanie trotz schwerer Verluste an einem solchen Gegenangriff beteiligen. Gott weiß, wie wir es geschafft haben, diesen Befehl auszuführen. Ich glaube, wir kämpften halb bewusstlos, wie Automaten. Was uns aufrecht hielt, war die militärische Disziplin. Wir spornten uns gegenseitig an. Wenn der Kamerad zu meiner Rechten einen Schritt vorwärts machte, um sich dem Feind entgegenzustellen, und der Soldat zu meiner Linken seinem Beispiel folgte, tat ich automatisch dasselbe.
    Aber das war noch nicht alles. Ich wurde Zeuge von Gräueln, die ich mir niemals hätte träumen lassen, nicht einmal nach Vaters schrecklichen Geschichten über Sedan. Der größte Schock, den ich zeitlebens nicht vergessen werde, war nicht unsere Flucht, sondern die Flucht der Zivilbevölkerung. Die Straßen und Wege waren so voll von

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