Suess und ehrenvoll
herkommt. Ist es das Gefühl, einem historischen Geschehen beizuwohnen? Einem Geschehen, das ich nicht nur erleben werde. Ich werde aktiv an ihm beteiligt sein. Oder ist es ganz einfach die Tatsache, d ass meine kleine Welt zusammengebrochen ist? Meine Vorfreude auf den Urlaub bei Euch zu Hause war vergebens. Der Urlaub ist gestrichen. Wer weiß, wann wir wieder davon träumen können, wann ich Euch wiedersehen werde.
Vielleicht bin ich auch deshalb so aufgeregt, weil mir so eine ehrenvolle Aufgabe zuteil wurde. Ich gehöre jetzt zu den Verteidigern unseres Vaterlands. Vielleicht sogar zu den Rächern der Niederlage von 1870. Zu den Befreiern von Elsass-Lothringen. Wem ist das schon vergönnt?
Dazu kommt, dass mir eine weitere Ehrenpflicht zufällt. Vater, Du hast einmal zu mir gesagt, dass wir Juden mehr für Frankreich tun müssen als alle anderen. Dass wir über unsere staatsbürgerliche Pflicht hinaus dem Vaterland Dank schulden, weil es uns ermöglicht, als gleichberechtigte Bürger ein Leben in Anstand und Würde zu führen. Du hast immer betont, dass nicht alle Juden immer dieselben Rechte genossen wie die Juden von Bordeaux. Damit man uns als echte Franzosen anerkennt, müssen wir beweisen, dass wir diese Anerkennung wert sind. Bin ich dazu ausersehen, diese Pflicht in Deinem Sinne zu erfüllen? Wenn ja, dann ist dies Grund genug für die Gefühle, die sich in mir regen.
Und wenn meine Unruhe nun ganz andere Gründe hat? Euch, liebe Eltern, kann ich es ohne Scham gestehen: Ich habe nicht nur Herzklopfen, sondern auch ein Flattern im Magen. Tief drinnen im Bauch. Vielleicht ist es einfach Angst? Physische Angst? Angst, wie ich sie vor zwei Wochen bei einer gemeinsamen Gefechtsübung mit einer Artillerieeinheit verspürt habe. Es wurde scharf geschossen, und die Kanoniere sollten uns »decken«. Doch dann geschah ein Unglück: In der Nachbarkompanie wurde versehentlich ein Soldat erschossen. Ich konnte nicht hinschauen, der Anblick des toten Soldaten machte mir Angst. Ich habe noch nie eine Leiche gesehen und fürchte mich sogar, auf den Friedhof zu gehen. Der Friedhof in Sauteyron hat immer ein ungutes Gefühl in mir ausgelöst. N achts habe ich oft einen Umweg gemacht, um nicht im Dunkeln an den Gräbern vorbeigehen zu müssen. Doch jetzt geht es aufs Schlachtfeld hinaus, und wenn ich nicht selbst falle, werden andere an meiner Seite fallen. Wie wird man mit so etwas fertig?
Wie Ihr seht, bestürmen mich verwirrende und widersprüchliche Gedanken. Verzeiht mir, dass ich Euch mit Problemen belaste, für die es keine Lösung gibt. Aber dafür sind Eltern doch da, oder nicht? Mit meinen Kameraden traue ich mich nicht zu reden. Ich lasse mich nicht gern verspotten, weder als pathetischen Patrioten noch als Feigling.
Euer liebender Sohn
Louis
Diesen Brief erhielten die Eltern, als Louis schon auf dem Weg nach Norden zur Front war. Sie waren in großer Unruhe wegen des Krieges, doch vor allem natürlich wegen der Nachricht, dass auch Louis ins Feld ziehen musste. Aber die Kriegserklärung hatte sie nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie lasen täglich Zeitung und hatten längst begriffen, dass diese Zuspitzung unvermeidlich war. Außerdem stellten sie sich den Krieg nicht so vor, wie Major de Boissieu ihn in seiner kurzen Ansprache an die Rekruten dargestellt hatte. Sie dachten, er werde von kurzer Dauer sein. ›Alle denken so! Wir werden Elsass-Lothringen befreien, und damit Schluss. Das weiß doch jedes Kind. Unser Louis ist sensibler als die anderen. Wir kennen ihn doch. Der Arme, er nimmt sich alles zu Herzen. Wir verstehen ihn ja, unseren lieben Sohn, aber wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Er wird bald merken, dass ein Krieg kein Kinderspiel ist, aber nicht so schlimm, wie er es sich vorstellt. Sicher bekommt er bald Urlaub. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.‹
Es sollte ein ganzes Jahr vergehen, bis Louis zum ersten Mal Heimaturlaub bekam. Seine Einheit wurde bei Kriegsbeginn in allerEile mit dem Zug nach Belgien transportiert, um die deutsche Invasion aufzuhalten. Unterwegs erfuhren die Soldaten vom ersten Sieg in diesem Krieg. Französische Truppen hatten Mulhouse eingenommen und damit die erste elsässische Stadt von den Deutschen zurückerobert. In dem Tagesbefehl, der im Zug verlesen wurde, verlieh der Regimentskommandeur nicht nur seiner Siegesfreude, sondern auch seiner persönlichen Überzeugung Ausdruck, »dass unsere Armee nach der Befreiung eines vor Jahrzehnten
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