Suess und ehrenvoll
sondern jovial, fast väterlich gesprochen. Seine Worte prägten sich Louis tiefer ein als alle Befehle und Rügen, die er tagtäglich zu hören bekam.
Am Abend merkte er, dass er sich den Fuß aufgeschürft hatte. Durch das lange Marschieren in dem engen Schnürstiefel war die Wunde schmerzhaft geschwollen. Als er den Unteroffizier um Erlaubnis bat, am nächsten Tag zum Bataillonsarzt gehen zu dürfen, warf dieser nur einen kurzen Blick auf den Fuß. »Nein, mein Freund«, entschied er dann, »Sie marschieren morgen mit uns weiter. Wenn Sie kräftig auf die Wunde auftreten, wird der Fuß sich daran gewöhnen und heilen.« Louis traute seinen Ohren kaum. Zu Hause hatte man ihn etwas anderes gelehrt. Doch am nächsten Tag ließ der Schmerz nach einigen Kilometern nach, und die Wunde heilte schließlich von selbst.
Bei einem Nachtmarsch wurde den Rekruten befohlen, ein Lager aufzuschlagen. Dabei ging es weniger darum, ihnen ein paar Stunden Schlaf zu verschaffen. Sie sollten vor allem den Umgang mit den Einmannzelten üben. Das Zelt, einen Feldspaten und die nötigen Werkzeuge führten die Soldaten in ihrer Ausrüstung mit sich. Bevor es ans Aufbauen ging, mussten sie das Terrain einebnen, damit das Zelt einen festen Stand hatte, und nach dem Einschlagen der Zeltnägel eine Abflussrinne graben, damit das Wasser ablaufen konnte, falls es regnete. Louisführte diese Befehle höchst oberflächlich aus, und da er erst zwei Stunden später für den Wachdienst eingeteilt war, schlüpfte er in sein Zelt und fiel in Sekundenschnelle in tiefen Schlaf. Als die Zeit zur Ablösung kam und ein Kamerad ihn weckte, lag Louis in einer Pfütze. In seiner Erschöpfung hatte er nicht gemerkt, dass es in Strömen regnete. Die Rinne, die er vor dem Einschlafen gegraben hatte, war zu flach gewesen. Während er in triefenden Kleidern, Schuhen und Socken aus dem Zelt kroch, hatte er nur einen Gedanken: ›Morgen bin ich krank.‹ Seine Mutter hatte ihm immer eingeschärft: Du darfst nicht mit nassen Kleidern in Kälte und Wind herumlaufen, sonst holst du dir eine Lungenentzündung. Wenn er als Junge vom Regen durchnässt nach Hause kam, steckte ihn seine Mutter sofort in ein heißes Bad und zog ihm warme, trockene Kleider an. Und jetzt? Jetzt stand er zwei Stunden lang klatschnass und zitternd im kalten Wind Wache.
Beim Morgenappell sah Louis, dass es seinen Kameraden ähnlich ergangen war: Sie waren durchnässt bis auf die Knochen und schauten drein wie begossene Pudel. Nur die Offiziere und Unteroffiziere trugen trockene Uniformen. Sie hatten ebenfalls die Nacht in Zelten verbracht, sie aber nach allen Regeln der Kunst aufgebaut. Louis begann zu ahnen, dass die Offiziere absichtlich nicht nachgeprüft hatten, ob die Rekruten ihre Anweisungen gewissenhaft ausführten. Den Preis, den man am eigenen Leibe bezahlt hatte, würde man nicht vergessen. Ein scharfer Befehl riss die Soldaten aus ihren trüben Gedanken. Anstatt zu frühstücken mussten sie die nassen Zelte zusammenlegen und einen Trainingslauf starten.
Louis wurde nicht krank. Auch seine Kameraden, die den ganzen Tag in feuchten Kleidern anstrengende Übungen machen mussten, holten sich nicht einmal einen Schnupfen. Die körperliche Anstrengung bewahrte sie vor allen Übeln. Wieder einmal konnte sich Louis davon überzeugen, dass sein Körper viel mehr aushielt, als er je geglaubt hätte.
Das Schlimmste an der Grundausbildung war für Louis das Heimweh, das ihm manches Mal heiße Tränen in die Augen trieb. Er sehnte sich nach der Familie, nach Bordeaux. Als er in einer hellen Nacht Wache stand, sah er zum Sternenhimmel auf. Sein Vater hatte ihm oft die Namen der Sterne genannt, wenn sie in warmen Nächten draußen gesessen hatten. Er hatte ihm erklärt, wie sich Nomaden in der Wüste und Seeleute auf dem offenen Meer an Sternbildern orientieren. Louis ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. ›Vater, Mutter und die Schwestern sitzen jetzt vielleicht draußen im Garten und betrachten dieselben Sterne wie ich. Wir sind Hunderte von Kilometern voneinander entfernt und sehen doch dasselbe Bild. Wenn wir heute Abend wie früher beisammen säßen, würden wir dasselbe gemeinsam erleben. Ein schönes und doch trauriges Gefühl‹, seufzte er im Stillen und fühlte einen Stich im Herzen.
Als sich die Grundausbildung dem Ende zuneigte, fragten sich die meisten bang, welcher Einheit sie wohl zugeteilt würden und was sie dort erwartete. Louis dachte an die Worte seiner Lehrerin
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