Suess und ehrenvoll
trocknen. Relativ gesehen ein Abglanz vom Paradies in unserer Hölle und für mich eine Gelegenheit, ein wenig nachzudenken. Unfassbar, dass ich seit Wochen keinen normalen Gedanken fassen konnte. Vater, Du hast uns immer zu vernünftigem Denken angehalten. Wenn meine Schwestern und ich Unsinn redeten oder wir uns nicht klar ausdrückten, hast Du versucht, Ordnung in unsere Gedanken zu bringen. Wo bleibt Eure Vernunft, sagtest Du zu uns. Denkt systematisch! Jetzt erinnere ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit an das, was Du mich gelehrt hast …
Unser Leben hier mit den täglichen Strapazen, der ständigen Angst um das eigene Leben, in Schlamm, Kälte und Nässe, die Befehle, die auf uns niederprasseln, all das erlaubt kein geordnetes Denken. Wir lassen uns vom Geschehen treiben. Wir tun, was alle tun, im Guten und im Bösen. Denken nur an den Augenblick und nicht darüber hinaus. Leben in einer Realität ohne Perspektive. Wir denken nicht daran, was morgen sein wird oder in einer Woche oder in einem Monat, weil wir keine Vorstellung von dem haben können, was uns erwartet. Wir können die Lage nicht einschätzen. Also denken wir nicht nach und tun nur das Nächstliegende.
»Wie kommt das?«, werdet Ihr fragen. »Ihr kämpft doch nicht die ganze Zeit. Schließlich greifen weder die Deutschen noch die Franzosen Tag für Tag an. Es gibt Kampfpausen, in denen Ihr essen, schlafen, Zeitungen und Bücher lesen und Karten oder Schach spielen könnt. Manchmal hört Ihr vielleicht sogar Musik mit einem Plattenspieler, den der eine oder andere von zu Hause geschickt bekam.«
All das ist richtig, doch in der Realität sieht es anders aus. Nur ein Beispiel von vielen: Sowohl die französischen wie auch die deutschen Stellungen verlaufen nicht wie mit dem Lineal gezogen, sondern in Schlangenlinien, die sich dem Terrain anpassen. Dass die Schützengräben hundert Meter von e inander entfernt sind, ist eher selten, meist ist die Entfernung weitaus geringer. Vorgestern musste ich an einer Stelle Wache halten, die nur etwa zwölf Meter vom nächsten deutschen Schützengraben entfernt ist. Und selbst wenn es gerade mal ruhig ist an der Front, könnt Ihr Euch vorstellen, in welcher ständigen Spannung wir leben. Wir wissen ja nie, wann die Deutschen angreifen werden. Und wenn sie angreifen, haben wir nicht immer genug Zeit, in Stellung zu gehen. Oft bleiben uns nicht einmal Sekunden! Und wir wissen auch nicht, wann von unserer Seite plötzlich ein Angriffsbefehl kommt. Um uns vor Überraschungen zu schützen, haben wir alle möglichen Tricks erfunden. Es könnte ja sein, dass ein mutiger Deutscher im Schutz der Nacht zu uns herüberkriecht, den Stacheldraht durchschneidet und eine oder zwei Handgranaten in unseren Graben wirft. Wir haben also ein paar leere Konservenbüchsen auf die Stacheldrahtzäune gehängt, die klappern, wenn jemand den Zaun berührt. Die Folge ist, dass die Dosen dauernd klappern. Entweder bewegt sie der Wind, oder es fällt ein Zweig von den Bäumen. Manchmal bringen auch die grässlichen Ratten, von denen es hier wimmelt, die Dosen zum Klingen. Da könnt Ihr Euch leicht vorstellen, wie wir nachts »schlafen« oder uns an Ruhetagen »ausruhen«.
Und das ist noch lange nicht das Einzige, was uns das Leben schwer macht. An Ruhetagen bekommen wir regelmäßige Verpflegung und sogar warmes Essen. Mobile Feldküchen werden nachts auf Pferde- oder Lastwagen bis an unsere Stellungen herangefahren. Natürlich ist diese Verpflegung ein unerhörter Luxus, von dem wir an Kampftagen, von Hunger und Durst geplagt, nur träumen können. Doch vor ein paar Tagen blieb die Verpflegung aus, nachdem wir von morgens bis abends einen halben Meter tief im Schlamm gesessen hatten und vom Regen völlig durchnässt waren. Die halbe Nacht verging, und unsere Stimmung sank unter den Nullpunkt. Warum kommt das Essen nicht?
P lötzlich hörten wir von der deutschen Seite Beifallspfiffe und Jubelrufe, die in lauten, fröhlichen Gesang übergingen. Erst nach geraumer Zeit begriffen wir, dass unser Küchenwagen sich im Dunkeln in dem schlammigen Terrain verfahren hatte und zu den deutschen Stellungen gelangt war. Die bittere Wahrheit wurde uns endgültig klar, als man uns aus den gegenüberliegenden Schützengräben auf Deutsch und Französisch zurief: »Hallo, ihr Franzmänner, vielen Dank auch!« Uns blieb nur die Aussicht auf vierundzwanzig Stunden knurrenden Magen, während die Deutschen sich an unserem Essen gütlich taten. Einige
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