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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Tage später kann man vielleicht darüber lachen, aber ich kann es nicht komisch finden. Übrigens mussten wir auch in der nächsten Nacht lange auf Verpflegung warten. Unser Küchenpersonal war ja in Gefangenschaft geraten!
    Doch jetzt bin ich, wie gesagt, in recht entspannter Stimmung. Zum ersten Mal seit zwei Wochen dürfen wir für ein paar Stunden die Stiefel ausziehen (die Uniform nicht). Ich sitze in einem Graben, der relativ weit von der vordersten Linie entfernt ist, und die Atmosphäre ist beinahe friedlich. Ich denke nach. Ja, Vater, ich versuche, Ordnung und System in meine Gedanken zu bringen. Drei Monate sind vergangen, seitdem der Krieg ausgebrochen ist, und mir kommt es vor, als sei ein ganzes langes Leben an mir vorbeigezogen.
    An die Grundausbildung denke ich heute mit einem Lächeln zurück. In der Kaserne dachte ich, das sei die Hölle. Der Gipfel des physischen Leidens. Doch jetzt erscheint mir die Rekrutenzeit als Idylle. Als Sommer- oder Sportlager im Vergleich zu dem, was ich seitdem erlebt habe. Erinnert Ihr Euch noch daran, dass ich Euch schrieb, ich hätte Angst vor dem Anblick eines Toten? Dass ich mich abwandte, um nicht hinsehen zu müssen? Seitdem ist es mir schon mehrmals passiert, dass ich ringsum von Toten umgeben war. Sie sahen nicht aus wie Menschen, die im Bett gestorben sind. Nein, es waren zerfetzte, verbrannte Leichen. Rümpfe ohne Glieder. Aus denen die Eingeweide hervorquollen. Leichenteile. Leichen, die wenige Meter von unserem Graben entfernt lagen und zu denen ich wegen des feindlichen Feuers nicht hingehen konnte. Verwesende Leichen, die so stanken, dass man kaum atmen konnte. Und einige waren Kameraden, die mir zu Freunden geworden waren, die mir nahestanden, viel näher als meine Mitschüler. Mittlerweile habe ich regelrecht Angst, mich mit Soldaten anzufreunden. Wenn sie fielen oder verwundet würden, wäre der Schmerz zu groß.
    Ich frage mich, ob all das einen anderen Menschen aus mir gemacht hat. Bin ich derselbe, der ich früher war? Nur ein paar Monate älter, und doch habe ich mehr erlebt und erfahren als die meisten anderen Menschen in einem ganzen Leben. Aber bin ich deshalb anders geworden? Hat sich mein Wesen, mein Charakter verändert? Und wenn ja, in welcher Beziehung? Diese Gedanken lassen mir keine Ruhe.
    Vor zwei Wochen hatte ich ein Erlebnis, das mir zeigt, wie sehr ich mich in der letzten Zeit verändert habe. Ich weiß nicht, ob ich Euch von meinem Kameraden Jean-Marie de Marmont erzählt habe. Es war keine tiefe oder intime Freundschaft, aber wir waren gern zusammen. Wir haben uns in der Grundausbildung kennengelernt, als Jean-Marie, ein kleiner, schmächtiger Kerl, bei einem unserer Gewaltmärsche das Maschinengewehr unserer Abteilung tragen musste und unter dem Gewicht zusammenbrach. Der Zugführer schrie ihn an, und er tat mir so leid, dass ich mir das Maschinengewehr auflud. Ich half ihm aufzustehen und drängte ihn nach vorn an die Spitze der Kolonne, denn wer vorangeht, bekommt einen Adrenalinstoß und gibt nach einer Weile ein solches Tempo vor, dass die anderen ihn zurückpfeifen müssen. So kam es, dass ich ihm nicht nur in einem Moment des physischen Versagens helfen konnte, sondern auch seine Ehre gerettet habe.
    E ines Tages wurde an der Front, an der wir jetzt stehen, der Besuch unseres Divisionskommandeurs, Generalmajor Mardochée Georges Valabrègue, mitsamt seinem Stab angekündigt. Natürlich herrschte große Aufregung. Schließlich bekommen wir nicht jeden Tag so prominenten Besuch. Außerdem mussten die Stellungen für die Inspektion hergerichtet werden … Mein Freund Jean-Marie rümpfte die Nase, als er davon hörte. »Was soll die Aufregung? Dieser Valabrègue ist in meinen Augen kein richtiger General. Juden können keine Feldherren sein. Es gibt inzwischen schon viel zu viele jüdische Offiziere in der französischen Armee.«
    »Ach wirklich?«, fragte ich. »Er ist Jude? Woher weißt du das?«
    »Wieso, man weiß doch gleich, wer Jude ist«, erwiderte er.
    »Und was hast du gegen Juden?«, fragte ich.
    »Gar nichts. Sie können von mir aus leben, wo und wie sie wollen, wenn sie mich nur in Ruhe lassen. Wenn sie mir nicht zu nahe kommen.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Sieh mal, das ist wie … wie mit Affen. Affen sind nette und auch possierliche Tiere. Es heißt, dass wir von ihnen abstammen. Man sagt auch, dass wir Christen die Nachkommen der Juden sind. Schön und gut, aber wie würdest du dich fühlen, wenn dir auf

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