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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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belgischen und französischen Dorfbewohnern, dass an einen geordneten Rückzug der Truppen nicht zu denken war.
    Ihr müsst Euch das vorstellen: Alte Leute, Frauen und Kinder schleppen ihre Habe auf dem Rücken, zerren ihr Vieh hinter sich her oder sitzen auf Karren, die von halb toten Ochsen gezogen werden. In den Karren sitzen kleine Kinder auf Heuhaufen. Sie haben Tränen in den Augen. Ab und zu versuchen Automobile oder Lastwagen, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen, doch meistens ohne Erfolg. Wenn ihnen das Benzin ausgeht oder der Motor heißläuft, lassen ihre Besitzer sie einfach am Straßenrand stehen. Eine leichte Beute für die Deutschen. Es war ein einziges großes Chaos, ein Chaos voll panischer Angst. Die Panik nimmt zu, wenn eine deutsche Granate in die Menge einschlägt. Ringsum Tote und Verwundete und dazu das Gefühl grenzenloser Ohnmacht. Unterwegs werden a lle verlassenen oder noch bewohnten Dörfer ausgeplündert, sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten. Sie suchen etwas zu essen, doch manchmal stehlen sie auch nutzlose Dinge, die in den Häusern oder am Wegrand zurückgelassen wurden. In einem verlassenen Dorf kommt ein alter Mann aus einem Haus heraus. Er hält einen Käfig mit Singvögeln in der Hand. Was denkt er sich dabei? Will er die Vögel als Wegzehrung mitnehmen? Ein Teil der Dörfer, die vom Feind beschossen werden, geht in Flammen auf. Menschen scheren aus der endlosen Kolonne auf der Straße aus und legen sich auf den nackten Erdboden. Liegen sie im Sterben? Oder schlafen sie nur? Ich kümmere mich nicht um sie, mir fehlt die Kraft und auch der Wille.
    Das Erstaunliche ist, dass diese endlose, chaotische Elendskolonne sich in tiefem Schweigen voranschleppt. Wenn sie weinen, ist es ein stilles Weinen, das nicht zu hören ist. Niemand jammert und schreit, bis auf die Unglücklichen, die von Granaten getroffen werden. Ich kann mir das nur damit erklären, dass alle im Schock sind. Und dieser Schock treibt sie voran, ohne Sinn und Ziel. Vielleicht ist es die Angst. Zum ersten Mal wird mir klar, was das Wort Terror bedeutet.
    Wir haben haltgemacht. Wo wir sind? Das darf ich Euch nicht sagen, doch das Verbot ist überflüssig, denn niemand weiß, wo wir uns befinden. Der einzige Hinweis, den ich gesehen habe, war ein Schild mit der Aufschrift: Paris 60 Kilometer. Wir sammeln uns hier und warten auf Verstärkung.
    Liebe Eltern und Schwestern, ich schreibe wieder, wenn ich nach der großen Schlacht, die uns bevorsteht, noch am Leben bin.

    In Liebe

    Euer Sohn Louis
    Die Marneschlacht endete mit einem eindeutigen französischen Sieg, der »das Wunder an der Marne« genannt wurde. Die deutsche Offensive wurde gestoppt, und die Deutschen zogen sichhinter die Aisne zurück. Jeder Versuch, sie von dort zu vertreiben, misslang allerdings. Die Verluste waren entsetzlich. Die Fronten erstarrten.

    Liebe Maman, lieber Papa,

    gewiss habt Ihr aus den Zeitungen von unserem großen Sieg gehört. Diesmal war es ein echter, gewaltiger Sieg, wir haben Paris vor den Deutschen gerettet. Und wie feiert man diesen Sieg? Indem die Soldaten wieder zu Landarbeitern werden! Genau so ist es. Wir sind nur mit Graben beschäftigt. Wir graben Schützengräben, Laufgräben und wenige Meter dahinter Bunkeranlagen. Wir graben und graben. Bauen die Stellungen aus und setzen sie immer wieder instand, wenn sie durch die feindliche Artillerie beschädigt werden. Keiner glaubt mehr, dass der Krieg bald zu Ende geht. Wenn jemand die Hoffnung äußert, Weihnachten wieder zu Hause zu sein, erntet er nur noch Spott. Wir bauen hier eine Front auf, die noch sehr lange existieren wird. Und die Deutschen, die sich uns gegenüber eingeigelt haben, machen genau dasselbe.

    Meine Lieben,

    alle Briefe der letzten zehn Tage sind auf einmal angekommen. Heute haben wir einen ruhigen Tag, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt habe. Ich lese Eure Briefe und freue mich, auf diese Weise am Familienleben teilhaben zu können. Aus Euren Zeilen weht mich ein Hauch von Bordeaux an.
    Wenn ich von einem ruhigen Tag spreche, meine ich, dass uns anscheinend kein Angriff bevorsteht, weder von unserer Seite noch vonseiten der Deutschen. Natürlich hören wir die Geschütze donnern, doch sie sind aus irgendeinem Grund nicht direkt auf uns gerichtet. Die ganze Woche hat es in Strömen geregnet, was dazu führte, dass wir dauernd die Gräben ausschaufeln mussten. Jetzt scheint die Sonne, und d er Schlamm, in dem wir unser Leben fristen, beginnt zu

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