Suess und ehrenvoll
hoffte aber, im Frühjahr des nächsten Jahres wieder bei ihr in Frankfurt zu sein. Dass dies nicht der Fall sein würde, entnahm Karoline jetzt den Zeitungen.
Am 11. März wurde gemeldet, die Deutschen hätten schon über zweihundert Geschütze erbeutet, und am 14. März verkündete man voller Stolz, die Höhe »Toter Mann« sei erstürmt worden. Am 21. März, einen Monat nach Beginn der Schlacht, war es der deutschen Artillerie dann gelungen, die Stadt Verdun auch tatsächlich zu treffen. Die Illustrierten zeigten dramatische Bilder von einer Art Feuerwerk über den mittelalterlichen Brücken und Mauern der kleinen Stadt, deren Bevölkerung anschließend völlig evakuiert wurde.
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P ARIS
— November 1916 —
Die Verluste waren entsetzlich. Verdun war an drei Seiten von deutschen Truppen umschlossen, und die Hauptzufahrtsstraße von Bar-le-Duc, auf der täglich bis zu 9000 Lastwagen fuhren, lag an einigen Stellen schon unter Feuer. Jede Woche wurden 90
000 Menschen und 50
000 Tonnen Munition und Proviant über diese Straße befördert. Die Deutschen glaubten deshalb, die französischen Verluste seien viel höher als ihre eigenen. Sie wussten nicht, dass die Franzosen nicht nur Verwundete abtransportierten, sondern die Truppen an der Front in einer Art »Paternoster-System« ständig austauschten.
Louis erhielt im November Urlaub. Es waren ihm ungewöhnlich viele freie Tage gewährt worden. Als er im Zug saß, dachte er kaum an Paris. Seine Gedanken kreisten um das Wiedersehen mit seiner Familie und seinen Bekannten und Freunden im fernen Bordeaux. Von Kameraden hatte er gehört, dass die Kluft zwischen dem Leben an der Front und dem zivilen Alltag immer größer wurde und dass die Soldaten oft auf Unverständnis stießen, wenn sie über ihre Erlebnisse sprachen.
Außerdem, wie sollte Paris nach zweieinhalb Kriegsjahren schon aussehen? Bestimmt war es heute eine traurige graue Stadt; vor jedem Haus Sandsäcke zum Schutz vor deutscher Artillerie und Luftangriffen. Sein Zug fuhr gegen Morgen noch im Dunkeln in den Gare de l’Est ein. Louis hatte keine andere Wahl, als den Tag über durch die Stadt zu streifen, denn der Zug nach Bordeaux fuhr erst abends. So bekamen er und ein paar Kameraden – alle in Uniform, in ausgeblichenen Mänteln, nicht gerade sauber – das erste Mal Gelegenheit, das zivile Leben währenddes Krieges kennenzulernen; nicht in den von den Deutschen zerstörten Städten und Dörfern in der Champagne, sondern das echte Leben in der Etappe.
Aber konnte man Paris überhaupt als »Etappe« bezeichnen? Es war nicht die deprimierende, von den Schrecken des Krieges gebeutelte Stadt, die Louis erwartet hatte. Paris wirkte ganz und gar nicht so, als befände es sich in einem brutalen, schicksalsträchtigen Kampf auf Leben und Tod.
Die Stadt begrüßte die Soldaten als strahlende, fröhliche Metropole, scheinbar so bunt und sorglos wie immer. Zudem schien hier plötzlich die Sonne. Die Menschen gingen unbeschwert ihren Beschäftigungen nach, als wäre nichts geschehen. Kinder trödelten auf dem Schulweg. Die Place de la Concorde, die Avenue de l’Opéra, der Boulevard des Capucines, der Boulevard de la Madeleine – alles war genauso wie immer. Louis musste an die Geschichten denken, die sein Vater ihm erzählt hatte: Wie während der Revolution die Statue des Königs Louis XV. von der Place de la Concorde entfernt und stattdessen die Guillotine aufgestellt worden war, und wie die Massen jubelnd oder von Entsetzen gepackt die Hinrichtungen mitangesehen hatten. Wie Napoleon am anderen Ende der Rue Royale, die zur Place de la Concorde führt, die Madeleine-Kirche erbaut hatte, ein genaues Abbild der Akropolis in Athen.
Vom Krieg war nichts zu sehen. Was hatte Paris mit Verdun zu tun, das Louis und seine Freunde gerade erst verlassen hatten und in das sie bald wieder zurückkehren mussten?
Als es am Abend dieses kurzen Novembertags dunkel wurde, gingen in den Schaufenstern bunte Lichter an, was ihnen noch mehr Glanz verlieh. In den Straßen fuhren prächtige Automobile, die neuesten Modelle. Herausgeputzte Damen in Pelzen, die Hüte, einen Muff und nicht weniger herausgeputzte Schoßhündchen trugen, flanierten auf den Boulevards. Und überall waren auch junge Leute in prächtigen Uniformen! ›Die glänzen mehr als die eines Generals bei der Parade am 14. Juli‹, dachteLouis mit einem Blick auf seine abgerissene Montur. ›Und wie sie die Damen beeindruckten, mit ihren neuen blanken
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