Suess und ehrenvoll
das Elend in den Schützengräben nun schon seit fast zwei Jahren kannte. Es war, als sitze ein Krebs in seinem Magen und kneife ihn mit spitzen Zangen, doch er beherrschte sich.
Im Morgengrauen entdeckte er, dass auf dem Boden des Schützengrabens Bretter lagen, von denen das dauernde Knacken stammte, das er in den Stunden der Dunkelheit gehörthatte. Je heller es wurde, umso stärker regte sich in Louis das unangenehme Gefühl, dass diese Bretter nicht direkt auf dem Boden lagen. Zwischen ihnen und der Erde lag noch etwas. Sie schienen zu schaukeln.
Die spärlichen Lichtstrahlen, die durch den Nebel drangen, bestätigten seine entsetzliche Ahnung: Wie besessen suchte er nach stabileren Stellen auf den Brettern. Dabei trat er auf ein Brett, dessen anderes Ende sich unter dem Gewicht seines Körpers hob. Darunter kam eine durchlöcherte Leiche zum Vorschein; ihr Gesicht war an einigen Stellen bis auf den Schädelknochen zerfressen, der lippenlose Mund klaffte offen. Als Louis sich zu den Überresten beugte, um sie wieder zu bedecken, sprang eine Ratte aus dem Mund des Toten fast in sein Gesicht. Da konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er entfernte sich rasch von seinen Kameraden. Tränen schossen ihm in die Augen, er zitterte am ganzen Körper und musste sich übergeben. Er konnte nicht mehr aufhören, auch nicht, als er nichts mehr im Magen hatte.
»Schade um das gute Essen«, sagte sein Feldwebel. »So viel gibt es hier an der Front nicht davon.«
Die Einheit in diesem Teil des Grabens hatte in den letzten Tagen vor der Ablösung intensive deutsche Angriffe erlebt. Abwechselnd Sperrfeuer, um einen Sturmangriff der deutschen Infanterie vorzubereiten, dann wieder Sperrfeuer, dann wieder Sturmangriffe. Die Soldaten hatten keine Zeit gefunden, die Toten aus den Schützengräben zu ziehen. Sie waren schon froh, wenn wenigstens die Verwundeten weggeschafft werden konnten, und die gingen natürlich vor. Auch auf deutscher Seite hatte man keine Gelegenheit gehabt, die Toten wegzubringen, die im Niemandsland vor den französischen Schützengräben verwesten.
»Attention!« , sagte Louis zu seinen Leuten. »Merkt euch genau, wo die Leichen liegen. Mit Einbruch der Dunkelheit müsst ihr sie einsammeln und hinter die Kampflinie bringen. Außerdem müsst ihr die Bretter, mit denen eure Vorgänger die Leichen bedeckt haben, sorgsam aufheben. Die sind von den Stützwänden der Schützengräben und müssen da wieder angebracht werden. Sonst werden wir beim nächsten Angriff der deutschen Artillerie hier lebendig begraben.«
Louis und seine Leute hatten noch Glück gehabt, dass beide Seiten nach den intensiven Kämpfen eine Gefechtspause eingelegt hatten, als sie hierher verlegt wurden. Trotz des Schreckens bei der Entdeckung des Zustands der Gräben war dies doch das geringere Übel. Wenn die Deutschen oder die Franzosen gleich bei ihrer Ankunft das Feuer wieder eröffnet hätten, wäre es weitaus schlimmer gewesen.
Nach einigen Tagen relativer Ruhe kam der Befehl, sich auf einen Gegenstoß vorzubereiten. Einige der von den Deutschen Anfang März eingenommenen Positionen mussten zurückerobert werden. Aus taktischen, aber auch aus propagandistischen Gründen.
»Wir müssen wie der Blitz aus dem Graben heraus und rücksichtslos angreifen. Je schneller wir sind, umso größer sind unsere Chancen, die Stellungen einzunehmen – oder wenigstens mit dem Leben davonzukommen. Deshalb seid ihr ab sofort in höchster Bereitschaft. Steckt schon jetzt die Bajonette auf die Gewehre, stellt euch an die Wand des Schützengrabens und wartet auf meinen Befehl.«
Louis hatte sich in den letzten zwei Jahren an vieles gewöhnt, und dennoch dauerte das angespannte Warten diesmal so lange, dass es kaum noch zu ertragen war. Die Angst ließ ihn nicht aus den Klauen. Er versuchte, sich ein Gebet ins Gedächtnis zu rufen, das man in so einem Moment sprechen könnte, aber es fiel ihm nichts ein. Was hatte er damals bei seiner Bar-Mizwa aufsagen müssen? Er konnte sich nicht an die unverständlichen hebräischen Worte erinnern, die er auswendig gelernt hatte. Plötzlich beneidete er die Kameraden, die jetzt ein kleines Kreuz herauszogen, ein Geschenk ihrer Eltern oder ihrer Freundin,und Gebete murmelten. Warum konnten sie beten? Die Katholiken verstanden doch auch ihre lateinischen Gebete nicht, aber sie hatten sie wenigstens nicht vergessen! Vermutlich waren sie öfter in der Kirche gewesen als er in der Synagoge.
Dann donnerten die
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