Suess und ehrenvoll
Geschützdonner in Deinen Ohren, als gellten die Schreie der Verwundeten nicht um Dich her. Als ersticktest Du nicht am Verwesungsgestank der Gefallenen. Glaubst Du, ich hätte aus Deinen Briefen und Geschichten die grausige Realität nicht herausgelesen? Dann irrst Du Dich. Du wolltest mich immer schonen, mich nicht zu sehr belasten. Aber die Wahrheit erfahre ich ohnehin. Die Soldaten im Heimaturlaub erzählen, was sie erlebt haben, und die Geschichten verbreiten sich schnell. Und seit ich nichts mehr von Dir höre, bin ich erst recht auf der Jagd nach Neuigkeiten, Gerüchten und Beschreibungen der Kriegsgräuel. Je länger ich ohne Nachricht von Dir bin, umso tiefer versinke ich in Verzweiflung und quäle mich mit Bildern des Todes. Ohne ein beruhigendes Wort von Dir rennt meine Fantasie mir davon und füllt meine Tage und Nächte mit Ängsten.
Achtzehn Tage ist jetzt kein Brief von Dir gekommen. Nachdem Du fast täglich geschrieben hast, manchmal auch mehr als einmal oder zweimal am Tag. Was haben sie mit Dir gemacht? Was ist mit Dir los? Anfangs habe ich befürchtet, dass Du verwundet bist. Dann fing ich an zu hoffen , dass Du nur verwundet bist, aber lebst. Dann wüsste ich wenigstens, dass Du fern von der Front und nicht mehr in Lebensgefahr bist. Eine Verwundung könnte auch Dein Schweigen erklären: Vielleicht hast Du nichts zum Schreiben, oder Du bist zu s chwach. Weiter wollte ich gar nicht denken. Ich stellte mir vor, dass Du in einem überfüllten Lazarett auf einer Trage liegst. Ich dachte so intensiv an Dich, dass ich Schmerzen am ganzen Körper fühlte. Ich kämpfte mit der Angst, Dich zu verlieren, ich stellte mir Deine Wunden vor, Dein Leiden, Deine Verzweiflung. Und ich zwang mich zur Geduld. Doch Dein Schweigen dauerte an. Hast Du mir nicht versprochen, mir alles zu erzählen? Immer offen und ehrlich mit mir zu sein? Wäre es nicht möglich gewesen, mir über Deine Kameraden und Freunde eine Nachricht zukommen zu lassen?
Ach, mein liebster, liebster Ludwig. Was geschieht mit uns? Hat dieser furchtbare Krieg einen Keil zwischen uns getrieben? Man sagt, die täglich erlebten Gräuel löschten bei den Soldaten die Erinnerung an die Liebe aus. Es heißt, dass Männer Frauen aus Fleisch und Blut brauchen. Sie brauchen Augen, die sich in die ihren versenken, eine Hand, die sie streichelt. Ihr geschundener Körper braucht Lippen, die küssen. Die tapfersten Männer brauchen eine Frau, bei der sie sich ausweinen können. Die Krankenschwestern in den Lazaretten sollen jung sein, wie man sich erzählt, oft auch schön und voller Verständnis für die armen Soldaten!
Was ist, wenn Du mich nicht mehr liebst? Dieser Gedanke setzt sich immer mehr in meinem Kopf fest, auch wenn ich bemüht bin, ihn zu vertreiben. Ich sehe im Geiste eine andere Frau. Eine, die Deiner würdiger ist als ich. Sie weiß genau, was Du leidest. Sie lächelt Dir sanft und verständnisvoll zu. Sie sieht Deinen Körper, sie wäscht ihn, sie streichelt ihn, und schließlich küsst sie ihn. Sie kennt und sieht Dich so, wie nur ich Dich bisher gekannt und gesehen habe. Ich weiß schon, was Du denkst: Diese Karoline, die mein Schicksal nicht teilt, sie versteht mich einfach nicht. Wie sollte sie auch verstehen, was ich durchmache? So etwas kann man sich in den besseren Vierteln von Frankfurt überhaupt nicht vorstellen. Sie sieht nicht, was ich sehe, sie durchlebt nicht, was ich durch l ebe. Sie ist keine wirkliche Kameradin und kann es nicht sein. Ich darf in ihr keine Verbündete sehen. Ja, Ludwig, ich verstehe schon: Ich habe kein Recht, zu wissen, wie es um Dich steht. Ich habe das Recht verloren, Deine Gefährtin zu sein. Eine andere Frau sitzt neben Dir an Deinem Bett. Sag mir nur eines, Ludwig, ist sie schön?
Ach, mein Geliebter. Denke jetzt nicht, dass nur meine unbefriedigte Sehnsucht aus mir spricht. Ich weiß, was Männer denken: Frauen brauchen einen Mann, der sie sexuell befriedigt. Nur so können sie glücklich sein. Ich will nicht behaupten, dass Du mir nicht auch im Bett fehlst – Du fehlst mir sogar sehr. Manchmal versuche ich, mich selbst zu befriedigen und dabei mit umnebelten Sinnen an Dich zu denken. Ab und zu habe ich sogar einen Höhepunkt und kann mich entspannen. Aber gleich danach bin ich frustriert, niedergeschlagen und verzweifelt. Vor allem fühle ich mich so furchtbar einsam. Ich brauche Dich, in jeder Hinsicht. Ja, auch in sexueller, doch noch viel mehr in anderer Weise. Ich möchte ein Teil von Dir sein,
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