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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Stiefeln! Wer waren diese jungen Leute? Drückeberger, was denn sonst.‹ Einen seiner Kameraden hörte er sagen: »Wenn ich zerfetzt am Zaun unseres Schützengrabens hänge und vertrockne, wird das hier keinen jucken.«
    Louis dachte daran, wie er mit seinen Eltern auf dem Montmartre gewesen war, und machte seinen Begleitern den Vorschlag, dort hinzufahren. »Es ist ein guter Ort, um auf die Hauptstadt zu blicken, die solche widersprüchlichen Emotionen weckt.« An der Rue Lepic waren sie erleichtert, die Metro verlassen zu können, weil die Stahlräder in den unterirdischen Höhlen einen ohrenbetäubenden Lärm machten. Lachend meinte einer, dass sich diese Metro ein bisschen wie die Artillerie an der Front anhöre. Dann fuhren sie mit der Standseilbahn auf den Hügel. Und dort, auf den Treppen von Sacré-Cœur, beobachteten sie lange die Stadt, unschlüssig, was sie von ihr halten sollten. Nach einem kurzen Spaziergang auf dem Montmartre warf Louis einen letzten Blick auf das erleuchtete Paris. Die Aussicht war wunderschön, doch er nahm sie kaum wahr. Seine Gedanken wanderten nach Verdun und nach Flandern, zu den zerstörten Städten und Dörfern, in denen nur noch ein paar Häuserwände wie Theaterkulissen herumstanden. Die Erde dort sah aus, als würde nie mehr etwas wachsen: eine Wüste von Granattrichtern, Bäumen, von deren Stämmen nur noch ein spitzer Splitter aufragte. Sie erinnerten ihn an die Bajonette seiner verschütteten Kameraden, das Denkmal für die Soldaten, die die Erde lebendig begraben hatte. Diese Baumstümpfe waren das Denkmal für die Erde, die die Soldaten getötet hatten.
    Schwindlig von den glitzernden Boulevards, stieg Louis spätabends am Gare d’Austerlitz in den Zug nach Bordeaux. Er hatte sich von seinen Kameraden verabschiedet, die sich jetzt in verschiedene Richtungen zerstreuten. Doch auch im Zug nahm sein Staunen kein Ende. Er war voll besetzt mit Urlaubern, dieans Meer wollten. Nicht nur, dass es während des Krieges so etwas wie Urlauber gab, aber auch jetzt, wo der Winter bevorstand! Lauter betuchte ältere Herrschaften, die sich die ganze Fahrt nur darüber zu unterhalten schienen, wo man am besten ausging. ›Was für eine verrückte Welt‹, dachte Louis, ›und wer weiß, was mich zu Hause erwartet? Werde ich mit denen, die mir am nächsten stehen, überhaupt noch eine gemeinsame Sprache finden?‹

20
    F RANKFURT AM M AIN
— 1916 —
    Karoline war verzweifelt. Die Nachrichten aus Verdun klangen längst nicht mehr so siegestrunken wie in den ersten Wochen. Was heute von den Deutschen erobert wurde, holten sich die Franzosen ein paar Tage später zurück. Douaumont, Vaux, Fleury, »Toter Mann« – es waren alles nur Schreckensnamen, an denen Ströme von Blut klebten. Und Ludwig war irgendwo in dieser Hölle und hatte seit Wochen nicht mehr geschrieben.

    Mein Geliebter,

    wieder kein Lebenszeichen von Dir. Seit Wochen kein Wort. Ich habe Deine Mutter gefragt, und sie erwiderte tief bekümmert, dass auch sie keine Nachricht von Dir hat. Wenn Deine Mutter so etwas sagt, dann glaube ich ihr. Du schreibst also gar nicht mehr. Was hat das zu bedeuten?
    Ich laufe jeden Morgen zur Post. Der Beamte am Schalter für postlagernde Briefe, der mich von meinen häufigen Besuchen kennt, hat schon gemerkt, dass ich in letzter Zeit mit traurigem Blick das Postamt verlasse. Vielleicht hätte ich nicht zulassen sollen, dass mir vor Enttäuschung die Tränen in die Augen stiegen. Er hat noch nie mit mir gesprochen, aber heute sagte er in vorwurfsvollem Ton: »Mit Ihrer Leidensmiene machen Sie nur anderen das Herz schwer. Ein großer Teil der Briefe, die wir heutzutage befördern, sind Todesmitteilungen. Danken Sie Gott, dass Sie nicht auch so einen Brief bekommen, und tragen Sie Ihr Schicksal mit Fassung.« Ich war völlig verblüfft. Bis jetzt war mir nicht klar, wie sehr man mir meinen Kummer ansieht.
    V ielleicht hat er recht. Deine Eltern haben keine Todesnachricht erhalten. Also bist Du am Leben. Warum kann ich mich in der jetzigen Lage nicht damit begnügen? Ich liebe Dich, und Du lebst. Sollte ich nicht glücklich sein?
    In Wirklichkeit, mein Liebster, bin ich ganz einfach schwach. Ich brauche Dich. Ich hasse Frankfurt und ebenso Heidelberg, ich hasse dieses banale Leben hier, das weitergeht, als wäre nichts geschehen. Als stecktest Du nicht irgendwo tief im ekligen Schlamm eines Schützengrabens. Als wärst Du nicht in jeder Sekunde vom Tode bedroht. Als dröhnte kein

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