Suess und ehrenvoll
französischen Geschütze, die weit hinter Verdun standen. Über Louis’ Kopf flogen Granaten auf die von den Deutschen eroberten, tief in den Felsen gegrabenen Bunker. Der Lärm war ohrenbetäubend; der ganze Schützengraben bebte. Die Wände bewegten sich, und auch der Boden, auf dem er stand. Er kam sich vor wie auf hoher See. Doch was aus dem Graben aufspritzte, war nicht Wasser, sondern Sand, Schlamm und Staub, vermischt mit dem bekannten Schwefelgeruch.
Bei dem, was die Deutschen jetzt abkriegen, versuchte Louis sich Mut zuzusprechen, wird von ihnen nicht viel übrig bleiben, bis wir sie angreifen. Doch der Befehl zum Angriff kam nicht. Plötzlich, wie auf ein unsichtbares Zeichen, verstummte die Artillerie. Stille legte sich über die Schützengräben, niemand gab einen Befehl oder erklärte etwas, doch statt Entspannung und Erleichterung überkam Louis ein bedrückendes Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. ›Warum bombardieren wir nicht weiter?‹, fragte er sich. ›Warum greifen wir nicht an?‹ Der Bataillonskommandeur steht die ganze Zeit beim Funkgerät, aber er sagt nichts!
Gegen die Sicherheitsvorschriften stellten sich Louis und seine Kameraden auf die Zehenspitzen, um aus dem Schützengraben hinauszuspähen.
Aber selbst als er es mit eigenen Augen sah, weigerte sein Verstand sich zu glauben, was da geschehen war: Die Schützengräben links und rechts von ihnen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. ›Die haben zu kurz geschossen!‹, dachte er schaudernd. ›Die eigene Artillerie hat uns getroffen.‹ Sein ganzes Bataillon, die Kompanie rechts und die beiden Kompanien links von ihm, waren lebendig begraben, und nur seine Einheitin der Mitte war wie durch ein Wunder verschont worden. ›An was für einem dünnen Faden unser Leben hängt‹, dachte er, und eine furchtbare Trauer überkam ihn. Auch wenn er die Kameraden der anderen Kompanien nicht gekannt hatte: Nun hatte die Erde sie verschluckt! Nichts mehr war von ihnen übrig! Und wieder schaute er aus dem Schützengraben nach rechts und nach links. Die Sicherheitsvorschriften waren ihm vollkommen gleichgültig. Er blinzelte, konnte die Augen nicht abwenden.
Dann sah er, dass von seinen Kameraden sehr wohl etwas übrig geblieben war: Links und rechts ragten über den Schützengräben, die im Bruchteil einer Sekunde zu Massengräbern geworden waren, zwei Reihen kampfbereiter Bajonette empor. Nach vorne geneigt, als warteten die Soldaten noch immer auf den Befehl, anzugreifen und loszustürmen.
18
F RANKFURT AM M AIN
— März 1916 —
Die Kämpfe um Verdun blieben in Deutschland nicht unbemerkt. Ganz im Gegenteil: Die Oberste Heeresleitung sorgte dafür, dass die blutgierige Presse reichlich mit Nahrung versorgt wurde. Man musste die kriegsmüden Deutschen irgendwie überzeugen, dass es »voranging«.
» F ORT D OUAUMONT GENOMMEN! «, schrien die Extrablätter am 3. März, und eine Woche später: » D ORF UND P ANZERFESTE V AUX GEFALLEN !« Es wurden Siegesmeldungen gebraucht, und die Propaganda lieferte sie. Dass die Eroberung der nahezu leeren, mit ein paar Hundert Mann besetzten Betonklötze, die von den Franzosen schon hatten gesprengt werden sollen, bestenfalls symbolischen, aber keinen strategischen Wert hatte, brauchte ja niemand zu wissen.
Auch Karoline las die Schlagzeilen, und wenn sie von »heroischen Kämpfen« las, zitterte sie um ihren Ludwig. Diese »Schlacht um Verdun« entsprach so ganz den romantischen Fantasien ihres Geliebten.
Das ganze Jahr 1915 hatte sie ihm regelmäßig Briefe geschrieben und beinahe ebenso viele zurückerhalten. Sie ahnte, dass er irgendwo in dieser Gegend lag, wenn er sich auch aus Gründen der militärischen Geheimhaltung nicht genauer darüber äußern durfte, wo er sich aufhielt. Umso ausführlicher waren die »Gespräche« über Musik, Museumsbesuche und einige neue Bücher gewesen.
Eine leichte Verstimmung war aufgekommen, als Karoline angekündigt hatte, sie wolle sich »demnächst« zur Ersten Juristischen Staatsprüfung anmelden, und sich sogar zu der Ansichtverstiegen hatte, »in den ersten Monaten nach dem Krieg« könne sie ja genug verdienen, damit Ludwig sein Studium in Ruhe abschließen könne, ohne seinen Eltern weiterhin auf der Tasche zu liegen. Das schien Ludwig gar nicht gefallen zu haben, denn er hatte drei Tage lang nicht geschrieben, und danach hatte er sich nie mehr nach ihrem Studium erkundigt.
Zu Weihnachten hatte er auch 1915 keinen Heimaturlaub bekommen,
Weitere Kostenlose Bücher