Suess und ehrenvoll
mit Dir verschmelzen, bis wir beide nicht mehr wissen, wo der eine anfängt und der andere aufhört.
Deine Karoline
(PS: Wenn der Zensor das liest, soll er ruhig lachen – wohl bekomm’s!)
Lieber Ludwig,
ich schäme mich so. Ich hielt mich für tapfer, treu und standhaft, muss aber jetzt entdecken, dass ich eifersüchtig und egoistisch bin. Doch eines verspreche ich Dir, ja, ich schwöre es: Wenn Du zurückkommst, ist alles vergessen. Dann verzeihe ich Dir alles, ganz gleich, ob es etwas zu verzeihen gibt oder nicht. Sag mir nichts. Behalt Deine Geheimnisse für Dich. Aber komm zurück. Mehr will ich gar nicht.
Karoline legte den Brief aus der Hand und versank in Gedanken. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Auf der Straße bellte ein Hund. Karoline zögerte lange. Schließlich faltete sie den Brief, steckte ihn in einen Umschlag, klebte ihn zu und verschloss ihn in einer Schublade. Dann nahm sie ein leeres Blatt und begann von Neuem zu schreiben.
Lieber Ludwig,
ich denke Tag und Nacht an Dich. Ich weiß, dass die Post im Krieg nicht immer rechtzeitig ankommt. Deshalb muss ich mich damit abfinden, dass keine Nachricht von Dir kommt. Aber ich fasse mich in Geduld. Ich bin unserer Liebe ganz sicher und glaube an unser gemeinsames Schicksal und eine gemeinsame Zukunft.
Diese Zeilen lege ich einem Paket bei, das ich für Dich gepackt habe. Es enthält zwei Bücher, ein Glas Marmelade, Zigaretten und ein Paar Handschuhe. Morgen schreibe ich ausführlicher. Ich drücke Dich in Gedanken an mein Herz und küsse Dich glühend.
Deine Karoline
21
B ELGIEN
— November 1916 —
Er hatte keine Ahnung, wo er war und wie er hier hingekommen war. Er befand sich in einer Art Schwebezustand, fühlte sich wie in Watte gepackt. Manchmal drang ein Schmerz zu ihm durch, den er nicht lokalisieren konnte – sein Körper fühlte sich an, als liege er auf einem Stein. Hin und wieder drangen auch Worte zu ihm durch, meist fern und gedämpft, manchmal auch näher. Worte wie »isolieren« oder »Exitus«. Ständig vernahm er Schritte, mal neben sich, mal weiter entfernt. Einmal schien ein Gespräch ganz nah, kam ihm aber nicht weniger unwirklich vor.
»Amputieren«, sagte eine Männerstimme. »Direkt oberhalb des Kniegelenks. Sehen Sie zu, dass die Kniescheibe erhalten bleibt, und vernähen Sie die Gewebelappen sorgfältig, sonst können Sie sich das Ganze gleich sparen.«
»Aber«, sagte die andere, jünger klingende Stimme, »das Bein können wir dem Patienten doch erhalten.«
»Kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit Ihren neuen Methoden«, sagte die erste Stimme unwirsch. »Sie sind hier in einem Feldlazarett. Wir haben keine Zeit und kein Material. Wir müssen schnell handeln, bevor das Gewebe nekrotisch wird.«
»Aber…«, beharrte die erste Stimme, »wenn wir etwas weniger wegnehmen und die Nähte keilförmig legen … es gibt auch eine Drainage, die ich…«
»Machen Sie, was Sie wollen«, wurde der Jüngere unterbrochen. »Vielleicht kriegen Sie den Mann ja wieder fronttauglich. Würde mich aber wundern.« Die Stimme war ärgerlich, nach einem Seufzer klang sie versöhnlicher. »Zeigen Sie mir, was Siekönnen. Hier gibt es ja genügend Versuchsobjekte. Die meisten gehen eh über den Jordan, da kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an. Nur schnell muss es gehen. Hier wird jedes Bett gebraucht.«
Die Watte wurde wieder dichter. Die Zeit verschwamm. Dann berührte ihn jemand, schüttelte ihn und rief ihm etwas ins Ohr. ›Was stören die mich‹, fragte er sich und wollte sich wieder in die Bewusstlosigkeit zurückziehen, doch gnadenlos kam das Erwachen. Sein Kopf war schwer, der Rücken tat ihm weh. »Ludwig Kronheim!«, rief die Stimme, und er spürte schnelle Schläge einer Hand auf seinen Wangen. »Sie müssen aufwachen. Lassen Sie sich nicht so gehen!«
Ludwig Kronheim. Das war er. Ludwig Kronheim. Gymnasiast aus Frankfurt. Student in Heidelberg. Frontsoldat. Wieder wollte ihn der Schlaf in die Tiefe ziehen, doch die Stimme war beharrlich. Als er die Augen aufschlug, sagte sie zu jemandem, den er nicht sehen konnte: »Er kommt zu sich. Ich denke, er ist in Ordnung.«
Die junge Frau setzte sich für einen Moment neben ihn auf einen Schemel. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Ludwig bemerkte, dass ihr Kittel aufgeschlagen war und ihr rechtes Knie hervorschaute. Aus irgendeinem Grund konzentrierte er sich ganz auf das Knie, ein nacktes Knie, das er gern gestreichelt hätte. Es erinnerte ihn an
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