Suess und ehrenvoll
ein anderes Knie – eines, das er besser kannte, das er oft berührt und liebkost hatte. Die Erinnerung daran erregte ihn. Er fürchtete, die Frau könnte es bemerken, und versuchte, sich abzulenken, doch da kam ihm plötzlich ein Traum, der sofort verflog, als er wieder erwachte und die Gerüche um sich herum wahrnahm.
Er war schon immer geruchsempfindlich gewesen. In einem Nebel scharfer Gerüche von Medikamenten und Blut, Schweiß, Urin und Kot begriff er, dass er in einem großen Saal voll Verwundeter lag. Die Schwester war längst nicht mehr neben ihm. Stöhnen und unverständliches Gemurmel drangen an sein Ohr,durchbrochen von gellenden Schreien. Und immer wieder laut: »Mama, Mama!«
Jemand in seiner Nähe, der wie ein Arzt aussah, sagte: »Immer, immer rufen sie ihre Mama, wenn sie den nahenden Tod spüren. Und letzten Endes sterben sie voller Einsamkeit.«
Sterben. Das Wort löste bei ihm endlich die Erinnerung aus, nach der er gesucht hatte. Er hatte in einem feuchten, modrigen Schützengraben gelegen, als plötzlich das Zeichen gegeben worden war. Sein Kompanieführer, Oberleutnant Schmidt, einer der wenigen Offiziere, die das Gemetzel bisher überlebt hatten, hatte ihnen befohlen, sich zum Angriff zu rüsten und die Bajonette auf die Gewehrläufe zu stecken. Die Geschütze hatten die französischen Stellungen bombardiert, um sie »aufzuweichen«, als Vorbereitung für den verzweifelten Sturmangriff, den vermutlich letzten, den die Truppen in diesem Abschnitt noch unternehmen würden.
Auf das Zeichen hin war Ludwig direkt hinter Schmidt aus dem Graben gesprungen und hatte versucht, durch Rennen sein Herzklopfen zu übertönen – vor den Augen nur die nach oben gestreckte Hand des Kompanieführers. Diese Szene erschien ihm wie eine Ewigkeit, dabei dauerte sie wohl nur Sekunden. Eine französische Kugel, vielleicht auch ein Granatsplitter, traf die Hand des Kommandanten und riss alle Finger ab. Ludwig schien es in seinem Entsetzen, als gäbe der erhobene Arm auch ohne die Finger weiterhin den Befehl, den Angriff fortzusetzen. In dieser Sekunde spürte er einen gewaltigen Schlag, der ihn auf die Erde warf. Schlimmer als der Schmerz war der Schock und dann das Entsetzen. Er hörte sich selbst in Panik schreien: »Hebt mich auf, nehmt mich mit, nehmt mich mit! Lasst mich nicht hier liegen!«
Wie lange er dort schreiend gelegen hatte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Sekunden? Minuten? Dann hatte ihn jemand gepackt und mitgeschleift, was seinen Schmerz noch verschlimmert hatte. Sein rechter Fuß war so abgewinkelt, als hielten ihnnur die Fetzen seiner Hose und seiner Stiefel noch mit dem Unterschenkel zusammen. Die Schmerzen wurden schier unerträglich, und er konnte nur noch einen klaren Gedanken fassen: ›Macht doch was gegen diesen Schmerz!‹
Ein junger Sanitäter bugsierte ihn mit, wie ihm schien, rücksichtsloser Brutalität auf eine Trage. Auf der anschließenden, endlos scheinenden Fahrt in einem rumpelnden, quietschenden Lastwagen über ungepflasterte Straßen wurde ihm erst nach einiger Zeit bewusst, dass er nicht der Einzige auf der Ladefläche war. Neben ihm und auch halb auf ihm lagen andere Verwundete; ihr Blut tropfte auf ihn herunter, ihr Stöhnen und Schreien füllte den engen Raum. Doch Ludwig war ganz auf den eigenen Schmerz konzentriert. ›Warum werde ich nicht ohnmächtig?‹, wunderte er sich. ›Soll mir doch jemand eine Narkose geben, ganz gleich, was danach kommt.‹
In dem überfüllten Feldlazarett versuchte eine Schwester, deren Gesicht in seinem Schmerz verschwamm, ihm Stiefel und Hosen abzustreifen. Er hörte jemanden schreien: »Verdammt, das tut weh! Schneiden Sie den Stiefel und die Hose doch einfach auf!«, und begriff erst dann, dass er selbst es war, der die Schwester anbrüllte.
Als ihm jetzt dieser Moment wieder in den Sinn kam, war er nicht sicher, ob seine Erinnerung ihn nicht trog. Hatte sie ihm wirklich geantwortet: »Kommt gar nicht infrage, Hose und Stiefel sind Regierungseigentum!«
Dann endlich die Erlösung. Man drückte ihm eine Halbmaske auf Nase und Mund, sein Blick glitt nach oben. Von der Decke hing eine große, runde Lampe. Die drehte sich immer schneller, und von da an wusste Ludwig nichts mehr.
›Ein Beinbruch ist kein Weltuntergang‹, dachte er, während er sich von der Narkose erholte. ›Die Schmerzen sind verschwunden, und das Bein wird schon wieder heilen.‹ Während er seine Situation mit wachsendem Optimismus analysierte, kam die
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